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Home > Eigenständige JugendpolitikRückblicke auf das Europäische Jahr der Jugend 2022

(06.03.2023) Das vergangene Jahr wurde von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zum Europäischen Jahr der Jugend (EJJ) ausgerufen. Nach Abschluss des Jahres hat die Stakeholder-Gruppe die Aktivitäten und Ereignisse ausgewertet und Empfehlungen beschlossen.

Europaflagge wird geschwenkt vor einem Gebäude Europaflagge wird geschwenkt vor einem Gebäude
Foto: M. Spiske via unsplash

Das Europäische Jahr der Jugend fand unter erschwerten Rahmenbedingungen statt: zunächst wurde es erst am 15. September 2021 ausgerufen, während die Corona-Pandemie noch in vollem Gang war. Ab Mitte Februar kamen - ausgelöst durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine - auch noch neue politische Rahmenbedingungen hinzu, welche mit einer neuen Energie- und Geflüchtetensituation das Engagement vieler Akteure für das EJJ erschwerte.

Das EJJ sollte positive Perspektiven und neue Chancen für junge Menschen eröffnen, sie bei ihrer persönlichen, sozialen und beruflichen Entwicklung unterstützen, ihr Engagement fördern sowie die Meinungen und Perspektiven junger Menschen stärker in politischen Entscheidungen berücksichtigen. Durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wurde im Lauf des EJJ die Themen Frieden, Sicherheit und Solidarität noch aufgegriffen. 

Unter Koordinierung des Bundesjugendministeriums fanden in Deutschland rund 650 dokumentierte Aktivitäten zum EJJ statt. (Lesenswert auch der Beitrag im Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe aus der Feder der Nationalen Koordinatorin des EJJ, Bettina Bundszus, Abteilungsleiterin im BMFSFJ) der  Neben Aktivitäten des Bundes sowie der Länder gab es auch zahlreiche Initiativen aus der Zivilgesellschaft. Finanziert wurden diese u.a. durch Erasmus+ - Mittel. Zudem wurden über JUGEND für Europa unbürokratisch und kurzfristig Kleinstförderungen bis 5.000 Euro für rund 100 Organisationen bewilligt.

In der Bewertung stellte die Stakeholdergruppe fest, dass das EJJ verstärkt europapolitische Aktivitäten angeregt hat. Gleichzeitig blieb das EJJ durch die Kurzfristigkeit der Ankündigung hinter seinen Möglichkeiten zurück - "faktisch ein Europäisches Halbjahr der Jugend", so der Abschlussbericht. Dies habe auch zu Nachholbedarf bei der Kommunikation zum EJJ geführt, die junge Menschen und ihre Strukturen nicht durchgängig erreicht habe. 

Die Stakeholdergruppe schließt ihre Arbeit mit einer Reihe ausführlicher Empfehlungen zu vier verschiedenen Themen ab:

Auswirkungen der multiplen Krisen auf junge Menschen

  • Soziale Sicherheit schaffen:
    • Junge Menschen dürfen bei Entlastungszahlungen nicht schlechter gestellt werden als andere Altersgruppen. Die Mittel sollten zudem zeitnah und möglichst unbürokratisch ausgezahlt werden.
    • Zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit sollte insbesondere die EU-Jugendgarantie wirkungsvoller umgesetzt werden. Dieses Problem für junge Menschen muss in der EU wirkungsvoll und aktiv behandelt werden.
    • Es braucht verbindliche Maßnahmen in der Sozial- und Beschäftigungspolitik wie eine flächendeckende Mindestausbildungsvergütung, die Abschaffung unbezahlter Praktika und einen erleichterten Zugang zu Bildungsförderung.
    • Kinder- und Jugendarmut muss aktiv bekämpft werden.
    • Junge Menschen brauchen flächendeckend Zugang zu (kostengünstigen) Mobilitätsangeboten.
    • Junge Menschen ohne bzw. mit geringem Einkommen sind besonders stark von den hohen Mietkosten auf dem Wohnungsmarkt betroffen. Für sie braucht es deshalb mehr kostengünstige Wohnraumangebote.
  • Chancengerechtigkeit verbessern
    • Alle Akteur:innen sollten besser zusammenwirken, um junge Menschen bei der Bewältigung der multiplen Krisen zu unterstützen. Hierzu müssen bestehende Unterstützungsangebote und Regelstrukturen rechtskreisübergreifend gestärkt werden.
    • Chancen und Zugänge zu guter formaler und non-formaler Bildung müssen gleichberechtigt für alle gelten. 
    • Junge Menschen brauchen geeignete Räume, um sich treffen und ausprobieren zu können. Dabei müssen unterschiedliche Bedürfnisse und spezielle Bedarfe mitberücksichtigt werden (z.B. Schutzbedarfe, besondere Ausstattung), um Benachteiligungen entgegenzuwirken.
  • Kommunikation in Krisensituationen verbessern
    • Die Kommunikation in Notsituationen (z.B. zu außerplanmäßigen Pressekonferenzen oder Krisensitzungen) muss für alle Menschen zugänglich und nachverfolgbar sein, zum Beispiel durch das Einblenden von Gebärdensprachdolmetschenden, Untertitel oder Übersetzungen in andere Sprachen. Nur so können alle Minderheitengruppen erreicht werden und entsprechend reagieren.
  • Junge Menschen und ihre Anliegen ernst nehmen
    • Alle relevanten Akteur:innen sollten das Recht auf Jugendbeteiligung anerkennen und darauf hinwirken, dass junge Menschen Gesellschaft und Politik als etwas verstehen und erleben, an dem es sich lohnt, aktiv mitzuwirken.
    • Die Perspektiven und Interessen junger Menschen müssen in allen gesellschaftlichen Bereichen stärker berücksichtigt werden.

Europa näher bringen

  • Europa und seine Wertegemeinschaft müssen für alle erlebbar werden. Dafür muss transparenter gemacht werden, was in Bezug auf Europa möglich ist und was bereits erreicht wurde. Dafür braucht es ein Europa, das jungen Menschen Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet – sowohl in der Europäischen Union als auch im Europarat. Junge Menschen müssen dabei in ihrer Lebenswirklichkeit abgeholt werden.
  • Es braucht eine offene, kritische Auseinandersetzung mit der EU, bei der auch schlechte Erfahrungen mit europäischer Rechtsetzung und deren Ausübung (z.B. im Bereich der Migrations- und Grenzpolitik) thematisiert werden.
  • Jugendaustauschprogramme müssen stärker finanziert, stärker bekannt und für alle in der EU lebenden jungen Menschen zugänglich gemacht werden - auch für junge Menschen, die keinen europäischen Pass besitzen, aber ihren rechtmäßigen Wohnsitz in der EU haben. Um auch sozial und strukturell benachteiligten sowie individuell beeinträchtigten jungen Menschen eine Teilnahme zu ermöglichen, braucht es z.T. neue, innovative Ansätze. Dabei ist es auch wichtig, dass die Austauschprogramme nicht nur zugänglich sind, sondern die Informationen darüber auch wirklich alle jungen Menschen erreichen.
  • Informationen über Europa müssen für alle zugänglich sein. Daher genügt es nicht, sich auf Lautsprache als Kommunikationsform zu fokussieren. Es müssen auch weitere Kommunikationsformen wie zum Beispiel Gebärdensprache, Lormen sowie Leichte und Einfache Sprache berücksichtigt werden. Des Weiteren sollten auch Sprachen abgedeckt werden, die nicht zu den Amtssprachen der EU zählen. Ziel ist die Gleichbehandlung aller Menschen und die Möglichkeit für alle sprachlich an Europa teilzunehmen.
  • Europäische Aktivitäten, die sich an junge Menschen richten und mit und von diesen gestaltet werden, sollten möglichst langfristig und nachhaltig angelegt sein.
  • Der EU-Jugenddialog als Beteiligungsinstrument der EU-Jugendstrategie sollte gestärkt werden.
  • Die Anliegen junger Menschen in Europa sollten lokal erfasst und an die EU-Ebene übermittelt werden („Bottum-up“-Ansatz). Gleichzeitig sollte die EU besser über Jugendbeteiligungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene informieren und diese wirksamer gestalten („Top-down“-Ansatz).

Empowerment junger Menschen

  • Politisch Verantwortliche sollten für die Anliegen und die Beteiligung von jungen Menschen stärker sensibilisiert werden.
  • Das Empowerment junger Menschen benötigt mehr Räume, Geld und Gestaltungsfreiheit sowie die Möglichkeit für ein „sanktionsfreies“ Ausprobieren 
  • In allen parlamentarischen Ausschüssen in Deutschland und auf EU-Ebene sollten verpflichtende Jugend-Hearings eingeführt werden.
  • Das Wahlalter sollte europaweit für alle jungen Menschen auf 16 Jahre abgesenkt werden.
  • Es braucht auf allen Ebenen einen verpflichtenden Jugend-Check für alle neuen Regelungsvorhaben.
  • Es braucht eine verlässliche und unabhängige Förderung für Kinder- und Jugendverbände als selbstorganisierte Interessenvertretungen junger Menschen.
  • Begleitformate und Begleitpersonen (Fachkräfte) sollte besser gefördert und anerkannt werden. Zudem braucht es mehr Regelförderung für Jugendprojekte und dabei gleichzeitig weniger Bürokratie.
  • Es sollte eine Alternative zum aktuellen Bildungs- und Teilhabepaket entwickelt werden, die unbürokratisch und nicht stigmatisierend ist, um junge Menschen früh zu empowern.
  • Der Übergang von der Schule in den Beruf ist für junge Menschen mit besonderen Herausforderungen verbunden, insbesondere für sozial und strukturell benachteiligte sowie individuell beeinträchtigte junge Menschen, und sollte deshalb intensiv unterstützt werden. Hierzu sollten bestehende Instrumente wie die Jugendberufsagenturen zur Umsetzung der EU-Jugendgarantie in Deutschland ausgebaut werden

Diversität

  • Um marginalisierten und benachteiligten jungen Menschen einen echten Zugang zu ermöglichen, braucht es ein langfristiges Engagement, zusätzliche Ressourcen sowie andere Ansätze und Formate (z.B. Vor-Ort-Ansätze, Begleitung durch Erwachsene, inhaltliche „Übersetzung“, Aufbereitung von Materialien, Vertrauenspersonen).
  • Die Beteiligung marginalisierter junger Menschen sollte als strukturelles Selbstverständnis auf allen Ebenen etabliert werden.
  • Die Inklusion junger Menschen sollte bei Jugendbeteiligungsprozessen auf allen Ebenen und unter Berücksichtigung sozialer und finanzieller Aspekte umgesetzt werden.
  • Es sollten Leitfäden oder Handreichungen bereitgestellt werden, die Organisator:innen von Jugendbeteiligungsprozessen dabei helfen, die unterschiedlichen Bedarfe von Gruppen marginalisierter junger Menschen angemessen zu berücksichtigen. Ergänzend sollten Inklusionsbeauftragte oder Awareness Teams eingesetzt werden, um die Umsetzung vor Ort zu unterstützen.
  • Marginalisierten Gruppen stehen aufgrund ihrer geringen Größe im Verhältnis zu anderen Gruppen nur wenig personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung. Um eine Chancengleichheit für die Menschen mit geringen Chancen zu erreichen, müssen die finanziellen und personellen Ressourcen für jene Gruppen besonders gefördert werden.
  • Die Umsetzung von Inklusion bedeutet zudem nicht nur die Teilnahme an der Gesellschaft, sondern sie bedeutet auch die Schaffung und Förderung von Rückzugsorten für Minderheiten. An die Rückzugsorte sind ebenso spezielle Bedingungen (z.B. Deaf Space, BIPoCSpace) geknüpft.
  • Es sollte in Anbindung an die UN-Kinderrechtskonvention eine zentrale Anlauf- und Beschwerdestelle eingerichtet werden, an die sich junge Menschen mit ihren Anliegen wenden können und die in jugend- bzw. bedarfsgerechter Weise kommuniziert. Die Stelle sollte junge Menschen auch zu ihren Rechten beraten.
  • Dabei sollte ein Austausch mit bestehenden Anlauf- und Beschwerdestellen, die z.T. bereits auf kommunaler sowie auf Landes- und Bundesebene bestehen, stattfinden.

Quelle: Auswertende Überlegungen und Empfehlungen der Stakeholder-Gruppe zum Europäischen Jahr der Jugend, 2023