Home > Eigenständige JugendpolitikJugendarmut in Zeiten der Pandemie

Vorstellung Monitor Jugendarmut: Silke Starke-Uekermann, Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) und Matthias Schröder, Deutscher Bundesjugendring (DBJR)

Jugendarmut ist eine Lebenslage

In ihrer Initiative Jugend(ar)mut klärt die BAG KJS über Jugendarmut auf, macht auf die Lebenslagen von Armut betroffener Jugendlicher aufmerksam und setzt sich für nachhaltige Veränderungen ein. Der Monitor Jugendarmut bietet eine Zusammenstellung von Daten und Fakten zum Thema Armut junger Menschen und erscheint alle zwei Jahre seit 2010. Er beleuchtet im Jahr 2020 die Verfügbarkeit von Ausbildungsplätzen, den Wohnungsmarkt als zusätzliche Hürde, die mangelnde soziale Teilhabe sowie die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Perspektiven benachteiligter Jugendlicher.

Frau Starke-Uekermann berichtete von den Ergebnissen und ging auf folgende Fragen ein:

  • Gibt es Jugendarmut in Deutschland?
  • Wer ist von Jugendarmut betroffen?
  • Was ist gegen Jugendarmut zu tun?

Kurzzusammenfassung des Inputs

Armut bei jungen Menschen

Die Lebensumstände, unter denen jungen Menschen in Deutschland groß werden, unterscheiden sich zum Teil deutlich. Arme Kinder und Jugendliche wachsen ganz anders auf als diejenigen, die das Glück hatten, in eine besser situierte Familie geboren zu werden. Auch wenn die Armutsgefährdungsquote zunächst nur die materielle Armut offenbart, wirkt sich der Mangel an Geld einschneidend auf andere Lebensbereiche wie Gesundheit, Bildung, Freizeit oder die Gestaltung des Übergangs in den Beruf aus. Frau Starke-Uekermann war es wichtig zu betonen: „Armut“ bedeutet eine Lebenslage.

Die Herkunft prägt in Deutschland in hohem Maße den sozialen Status. Nicht nur Reichtum, sondern auch Armut wird weitergegeben. Dabei ist Armut weniger die Folge als die Ursache vieler Probleme. Nur ein Drittel der Kinder und Jugendlichen, die in Armut aufwachsen, durchbricht den Armutskreislauf. Die Quote der „verfestigten Armut“ hat sich im Rahmen einer gewachsenen sozialen Ungleichheit in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Dabei ist Armut ein sich selbst verstärkender dynamischer Prozess. Individuelle sowie durch das Umfeld geprägte Verfestigungen bedingen sich gegenseitig.

Armut blockiert hierbei persönliche Ressourcen. Der Geldmangel erschwert die Alltagsbewältigung teilweise so, dass wichtige Entscheidungen nicht optimal getroffen werden können oder sogar vernachlässigt werden. Für die meisten jungen Menschen ist das Leben selbstverständlich, für andere sind Dinge wie der Kinobesuch nicht so einfach möglich. Jugendarmut beeinträchtigt alle 11 im Monitor Jugendarmut benannten Lebensbereiche junger Menschen. Das hat Folgen für die Gesundheit, das Wohlbefinden und die emotionale Intelligenz. Armut ist ein Kreislauf, den es zu durchbrechen gilt.

Im Jahr 2018 lag die Armutsgefährdungsquote der 18- bis 24-Jährigen bei 25,6 %. Damit ist die Armutsgefährdung junger Menschen unter 25 Jahren seit 2011 (23,2 %) um 2,4 % angestiegen. Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre rangieren bei der Armutsgefährdung auf Platz zwei. Waren im Jahr 2011 noch 18,7 % der bis 18-Jährigen armutsgefährdet, sind es 2018 bereits 20,1 %.

Ein besonders Armutsrisiko tragen Jugendliche ohne Schulabschluss. Die größte Wahrscheinlichkeit, ohne beruflichen Abschluss zu verbleiben, haben Schulabgänger*innen ohne Abschluss (68,7 %). Aber auch mit Hauptschulabschluss bleiben noch 31,2 % der jungen Menschen ohne beruflichen Abschluss. Arme Jugendliche starten beim Einstieg in ein erfolgreiches Berufsleben von den hinteren Plätzen. Das beginnt mit ungleichen Bildungschancen, die zu fehlenden oder niedrigen Schulabschlüssen führen. Wer keinen Schulabschluss, einen Förderschulabschluss oder eben „nur“ einen Hauptschulabschluss hat, fällt durchs Raster – ohne die Chance zu bekommen, die eigenen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.

Teilhabe und (Aus-)Bildung in der Corona-Krise

Die Corona-Krise hat die Lage weiter verschärft. Im April 2020 waren bereits 13.540 junge Menschen mehr arbeitslos und im Hartz IV-Bezug als im Vorjahr. Insgesamt waren 56.190 Jugendliche mehr arbeitslos als im Frühjahr 2019 (Rechtskreise SGB III und II.) Die Lage auf dem Ausbildungsmarkt hat sich verschlechtert, da die Zahl potentieller Ausbildungsbetriebe gesunken ist. Mitte Juli waren schon 47.000 weniger Ausbildungsstellen bei der Arbeitsagentur gemeldet als im Vorjahresmonat.

Jugendarmut und Gesundheit

Armut steigert das Risiko psychischer und physischer Erkrankungen auch bei jungen Menschen. Zwischen dem Bildungsstatus der Eltern und dem körperlichen und seelischen Zustand der Kinder besteht ein klarer Zusammenhang. Die Bewegungsfreude sinkt mit der Attraktivität des Wohnumfelds, und Arme werden aus attraktiven Vierteln verdrängt.

Ungleiche Chancen digitaler Teilhabe

Die Corona-Krise offenbart die digitale Schere. Arme Jugendliche werden abgehängt, denn technische Ausstattung und stabiles WLAN sind in armen Familien Mangelware. Ein Smartphone mit Prepaid-Karte und geringem Datenvolumen reicht nicht für Homeschooling oder Homeoffice. Ungleiche Chancen digitaler Teilhabe gefährden Bildungsabschlüsse. So haben 82,2 Prozent der 14-Jährigen aus bildungsfernen Familien und 86 Prozent aus Familien mit ALG II-Bezug zwar Zugang zu einem Computer und Tablet. Doch wenn Aufgabenblätter nicht ausgedruckt werden können oder dieser eine Computer der Familiencomputer ist, dann fehlt trotzdem der gezielte Zugang zu Bildung. Nur 37,5 Prozent der 14-Jährigen aus Familien mit ALG II-Bezug besitzen selbst einen Computer oder Tablet, in bildungsfernen Familien sogar nur 34,2 Prozent. Insgesamt jedoch besitzen in dieserAltersgruppe 51 Prozent einen Computer oder Tablet.

Wohnen und die mangelnde Chancengerechtigkeit

Wer eine Wohnung mieten will, braucht: Einen Einkommensnachweis oder eine Elternbürgschaft, eine Schufa-Auskunft, eine Kaution, Ersteinrichtung, Transportmittel für den Umzug und ein regelmäßiges Einkommen. Gleichzeitig besteht eine große Wohnungsnot. 2018 suchten 17,3 Mio. Einpersonenhaushalte eine Wohnung. Nur 5,4 Mio. Ein- bis Zweizimmerwohnungen wurden im gleichen Zeitraum angeboten. Aus Sicht der Jugendsozialarbeit erklärt sich die Wohnungslosigkeit junger Menschen nicht allein mit einem gänzlich aus den Fugen geratenen Wohnungsmarkt, sondern steht auch im engen Zusammenhang mit einer anhaltenden Jugendarmut, die junge Menschen in ihrer Teilhabe und Entfaltung hindert und einschränkt.

Jungen Menschen Teilhabe, Bildung und Ausbildung sichern!

Mit der Initiative Jugend(ar)mut und dem Monitor wird auf die bestehende Ungerechtigkeit in den (Start-)Chancen junger Menschen aufmerksam gemacht. Die BAG KJS fordert zur Bekämpfung von Jugendarmut:

  • Eine teilhabeorientierte Kinder- und Jugendgrundsicherung einzuführen.
  • Das Recht auf Inklusion, Bildung und Ausbildung konsequent für alle junge Menschen mit einer verbindlichen Ausbildungsgarantie umzusetzen.
  • Eine erweiterte Form der individuellen Assistenz und sozialpädagogischen Begleitung zur Verfügung zu stellen.
  • Mehr bezahlbaren Wohnraum für junge Menschen zu schaffen.
  • Wohnungslosigkeit aktiv zu bekämpfen.
  • Mit der anstehenden Reform der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) die Infrastruktur der schulbezogenen und arbeitsweltbezogenen Jugendsozialarbeit (§ 13 Abs. 1 und 2) sowie die Angebote des sozialpädagogisch begleiteten Jugendwohnens (§ 13 Abs. 3 SGB VIII) rechtlich und finanziell abzusichern und barrierefrei auszubauen.
  • Die Kostenheranziehung junger Menschen für die Leistungen der (stationären) Kinder- und Jugendhilfe zu streichen.

Jugendpolitisches Statement des DBJR zur Jugendarmut

Junge Menschen haben unterschiedliche Chancen an Gemeinschaft teilzuhaben, Ausflüge zu machen, internationale Begegnungen zu erleben, ins Zeltlager zu fahren, sich als Jugendleiter*in zu engagieren, die eigenen Interessen zu vertreten, Demokratie mitzugestalten. Der DBJR diskutiert darüber seit vielen Jahren. Aus Sicht des DBJR wären verschiedene Maßnahmen sinnvoll:

  1. Eine Kindergrundsicherung einzuführen, die allen Kindern und Jugendlichen zur Verfügung steht. Diese sollte gerecht finanziert werden, indem die unteren Einkommensgruppen gestärkt werden. Das Existenzminimum aller jungen Menschen sollte gesichert sein. Es sollten keine Konflikte mit anderen Leistungen in Schule, Ausbildung und Studium entstehen. Zusätzliche Bedarfe sind abzusichern.
  2. Infrastruktur stärken. Non-formale und informelle Bildungsangebote sollten kostenfrei ermöglicht werden.
  3. Ausbildungsgarantie jetzt! Der Mindestausbildungsvergütung sollte eine Ausbildungsgarantie folgen.
  4. Studium für alle ermöglichen und junges Wohnen fördern. BAföG sollte schuldenfrei ermöglicht werden. Wohnen sollte im Studium und in der Ausbildung bezahlbar sein.
  5. Junge Menschen begleiten, auch über das 18. Lebensjahr hinaus. Dies betrifft insbesondere in der stationären Jugendhilfe befindliche junge Menschen. Das Jugendalter sollte nicht künstlich verkürzt, sondern realistisch betrachtet werden. Es braucht eine gesetzliche Klarstellung im Sozialgesetzbuch VIII.

In unserer Gesellschaft gibt es den Anspruch, vulnerable Gruppen in besonderem Maße zu schützen. Hierzu gehören u. a. Kinder und ältere Menschen. Jugendliche werden hingegen zunehmend verantwortlich gemacht. In der öffentlichen Wahrnehmung sind sie vor allem Objekte des Arbeitsmarkts und werden nicht ausreichend als eigenständige Subjekte betrachtet, die einen Anspruch auf würdevolle Absicherung haben und denen sich gleichberechtige Chancen bieten sollten.

Aus der Diskussion

Die Teilnehmer*innen waren sich einig, dass sowohl die Herkunft, der soziale Status als auch der Bildungshintergrund der Eltern entscheidend und mitverantwortlich für die Benachteiligungen ist. Gesellschaftliche Selektionsprozesse finden u. a. über den sozialen Status und über den Bildungsabschluss des Elternhauses statt. Beides ist gleichermaßen relevant.

Ein wichtiges Anliegen der Impulsgeberin und des Impulsgebers war es, herauszustellen, dass der Umgang mit Jugendarmut auch eine Haltungsfrage darstellt. In leistungsorientierten Gesellschaften lautet das Urteil schnell „die sind ja selbst schuld“. Doch jede*r sollte hinterfragen, von welchem Standpunkt aus bewertet wird.

Weiterführende Literatur:

Monitor Jugendarmut 2020

Position des DBJR zu Jugendarmut

Beitrag aus der Online-Veranstaltung "Treffpunkt Jugendpolitik" vom 14.12.2020