Home > Eigenständige JugendpolitikJugendpolitik in Corona-Zeiten

Einführung von Prof. Dr. Karin Böllert, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Entwicklungslinien und Meilensteine der Jugendpolitik

Am 3.12.2019 wurde ein Kabinettsbeschluss zur Jugendstrategie der Bundesregierung gefasst. Dieser wurde gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Jugendministerin Franziska Giffey mit Jugendlichen begangen. Gleichzeitig ist auch die Kinder- und Jugendhilfe eine wichtige Akteurin bei der Umsetzung Eigenständiger Jugendpolitik. Das hat die AGJ u. a. in ihrem Positionspapier "Jugend braucht mehr! - Eigenständige Jugendpolitik voranbringen und weiterdenken" (Juli 2020) deutlich gemacht.

In den unterschiedlichen Entwicklungsschritten wird deutlich, dass die Eigenständige Jugendpolitik ein Prozess ist, der zu seiner Entfaltung das Handeln vieler Akteur*innen, Entscheidungsträger*innen und das Zusammenspiel verschiedener politischer Ebenen und Ressorts notwendig macht. Die AGJ unterstreicht dabei ein modernes Verständnis der Kinder- und Jugendhilfe und sieht diese als natürliche Partnerin bei der selbstbestimmten Durchsetzung von den Interessen junger Menschen. Dabei sind alle Bereiche und Akteur*innen der Kinder- und Jugendhilfe aufgefordert, diesen Auftrag wahrzunehmen und weiterzuentwickeln.

Die AGJ plädiert dafür, die Lebensphase Jugend bei der kommunalen Jugendhilfeplanung als eigenständige Phase stärker in den Blick zu nehmen und junge Menschen hieran umfassender zu beteiligen. Sie sieht es als dringend erforderlich an, die Strukturen der Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit zu sichern und – angesichts der derzeitigen Krise – grundlegend zu stabilisieren und (neu) zu verankern. Zuletzt findet dies auch seinen Ausdruck in dem Kinder- und Jugendpolitischen Leitpapier zum 17. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag (November 2020). Dort heißt es:

„Junge Menschen wollen Verantwortung übernehmen, sich engagieren und wirkungsvoll beteiligt werden.“ Jugendstudien zeigen, dass das öffentlich gezeichnete Bild von jungen Menschen als nur an ihren eigenen Belangen interessiert nicht zutreffend ist. Nicht zuletzt hat die Bewegung Fridays For Future gezeigt, dass der Klimawandel und ganz allgemein die Frage, wie wir das zukünftige gesellschaftliche Zusammenleben gestalten, für junge Menschen virulente Themen sind. Auch in der Corona-Krise legen junge Menschen eine Haltung der Verantwortung gegenüber älteren Menschen als Risikogruppe an den Tag und stellen unter Beweis, dass sie sich engagieren. Junge Menschen bewerten die Bereitschaft von Gesellschaft und Politik, sie zu hören, einzubeziehen und mitbestimmen zu lassen, als zu wenig ausgeprägt. Sie monieren, dass zu wenig Gelegenheiten geschaffen werden, die es jungen Menschen ermöglichen, sich in Politik und gesellschaftliche Gestaltungsaufgaben adäquat einmischen zu können. Das gilt auch für die Beteiligungsmöglichkeiten in der Corona-Krise: Gerade hier nehmen junge Menschen wahr, dass sie nur auf ihre Rolle als Schüler*innen, Student*innen und Auszubildende reduziert werden, was sie ablehnen. Sie sehen sich nicht mit ihren umfassenden Bedürfnissen gewürdigt und ernst genommen. Junge Menschen wissen, dass ihr Engagement nicht bequem, sondern herausfordernd ist – sie fordern, dass dies als Chance und nicht als Risiko verstanden wird.

Junge Menschen sind politisch und fordern Politik heraus. Junge Menschen können und wollen sich beteiligen. Mitbestimmung ist für sie in jedem Alter notwendig, und die Forderung danach macht nicht halt vor Grenzen des Wahlalters. Junge Menschen erwarten für alle die gleichen Beteiligungschancen. Der soziale Status, kulturelle Zugehörigkeiten oder Behinderungen dürfen für sie keinen Ausschluss von Beteiligungsmöglichkeiten markieren. Sie haben einen starken Sinn für Gerechtigkeit, und der Abbau sozialer Ungleichheiten und ökologischer Benachteiligungen ist für viele die Richtschnur ihres Engagements. Dabei denken und handeln sie global, vernetzt und zukunftsorientiert. Lautstark fordern sie Politik lokal, national und international heraus und treten dafür ein, dass Nachhaltigkeit keine Floskel bleibt, sondern Handlungs- und Entscheidungsprinzip und damit Messlatte des politischen Handelns. Sie kritisieren die herkömmlichen Politikstrukturen, die sie als zu schwerfällig wahrnehmen und als zu wenig jugendgerecht empfinden. Sie wollen in der Kreativität ihres politischen Handelns unbequem sein, um auf Versäumnisse der etablierten Politik aufmerksam machen zu können. Solidarität gelingt für junge Menschen nur zwischen allen Generationen. Dabei wissen sie, dass sie auf die Solidarität der älteren Generationen angewiesen sind, wenn sie selbst eine Zukunft haben wollen.

Die Kinder- und Jugendhilfe setzt sich für eine gerechte, demokratisch verfasste Gesellschaft ein und fordert Solidarität mit Benachteiligten. Wichtige Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe ist es, Angebote der Demokratiebildung zu machen und (Frei-)Räume für Selbstpositionierung und demokratisches Handeln zu bieten. Dafür sind unter anderem Verfahren so anzulegen, dass Mitsprache von Kindern und Jugendlichen in allen Handlungsfeldern möglich und wirkungsvoll ist. So müssen bedarfsgerecht ausgestattete Einrichtungen und Angebote Freiräume für junge Menschen eröffnen und Demokratiebildung ermöglichen. Die Kinder- und Jugendhilfe muss die Selbstorganisation ihrer Adressant*innengruppen unterstützen und befördern.

Prof. Dr. Böllert fragt: Sind wir schon so weit? Die AGJ-Vorsitzende stellt die These auf, dass Jugendpolitik nicht krisensicher sei. Das zeige das von der Pandemie geprägte Jahr. Sie verweist auf den Zwischenruf der AGJ: Jugend stärken: auch und gerade unter Corona-Bedingungen unerlässlich! (Juli 2020). Corona wirkt zum einen wie ein Brandbeschleuniger in Bezug auf soziale Ungleichheitsstrukturen in unserer Gesellschaft, und zum anderen wie ein Brennglas und zeigt uns, dass Jugendpolitik noch längst nicht so selbstverständlich ist, wie es zu wünschen wäre! Corona führt zum Wegfall jugendspezifischer Lebensstile und strukturierender Geschehnisse, die in der Jugendphase eigentlich selbstverständlich sind. Die Auswirkungen der Corona-Krise auf junge Menschen verdienen folglich mehr Aufmerksamkeit in den politischen und gesellschaftlichen Debatten. Dabei geht es nicht darum, eine Polarität zu den Erfordernissen des Gesundheitsschutzes aufzubauen. Es braucht aus Sicht der AGJ einen respektvollen Diskurs darüber, wie Lebenswelten jenseits von Arbeit, Qualifikation und Kernfamilie erreichbar bleiben. Bezogen auf die Jugend sind die Entwicklungsherausforderungen Verselbstständigung und Selbstpositionierung anders nicht erfolgreich zu bewältigen. Jugendlichen darf zum einen nicht der Eindruck vermittelt werden, dass sie ausschließlich in der Kernfamilie im Sinne des Infektionsschutzes gut aufgehoben sind und zum anderen Bildungs- und Betreuungsangebote vor allem deshalb geöffnet werden, damit ihre Eltern arbeiten können. 

Diese Veranstaltung ist einer von vielen notwendigen Schritten, um im Interesse junger Menschen Jugendpolitik krisensicher zu machen, so Prof. Dr. Karin Böllert. Sie wünsche allen einen erkenntnisreichen Austausch.

Beitrag aus der Online-Veranstaltung "Treffpunkt Jugendpolitik" vom 14.12.2020