Home > Eigenständige JugendpolitikZukunftssicher? Strukturen für Jugend & Beteiligung vor Ort

Elizabeth Heeke und Anne Wiechers, Landesjugendamt Westfalen (LWL) und Landesjugendamt Rheinland (LVR) und Christian Brüninghoff, Landesjugendring NRW

Im Panel ging es um den Status und die Aussichten der Jugend- und Beteiligungsstrukturen vor Ort. Es sprachen Elisabeth Heeke und Anne Wiechers über die Umsetzung Eigenständiger Jugendpolitik auf kommunaler Ebene aus Sicht der öffentlichen Träger. Christian Brüninghoff berichtete über die Landesebene aus der Perspektive der freien Träger. In der Diskussion wurden alle Betrachtungsweisen in den Blick genommen.

Eigenständige Jugendpolitik in kommunaler Verantwortung

In NRW gibt es insgesamt 189 Jugendämter und zwei Landesjugendämter (Rheinland (LVR) und Westfalen-Lippe (LWL)) sowie den Landesjugendring NRW. Die Servicestelle für Kinder- und Jugendbeteiligung in NRW ist beim LWL-Landesjugendamt angesiedelt. Sie berät Fachkräfte, Verantwortungsträger*innen und die Öffentlichkeit in Sachen Jugendbeteiligung. Die Expert*innen der Servicestelle initiieren, verstärken und entwickeln kommunale Jugendbeteiligung über verschiedene Angebote weiter.

Seit Juni 2019 engagieren sich die ersten elf Kommunen und Kreise für eine Weiterentwicklung der Jugendpolitik vor Ort im Rahmen des Programms "Eigenständige Jugendpolitik in kommunaler Verantwortung". Das Förderprogramm der Landesjugendämter Westfalen-Lippe und Rheinland (finanziert durch das Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration in NRW (MKFFI)) hat das Ziel, bis Ende 2021 landesweit 50 Kommunen und Kreise zu vernetzen und durch eine Fachberatung zu unterstützen, um eine wirksame jugendpolitische Mitgestaltung junger Menschen in ihren Kommunen zu ermöglichen. Die teilnehmenden Jugendämter erarbeiten gemeinsam mit Kommunalpolitik und Jugendlichen eine kommunale Strategie für eine jugendgerechtere Politik. Die Landesjugendämter unterstützen die kommunalen Strategien durch Fachberatung, Förderung und Vernetzung. Das Förderprogramm verfolgt das Ziel, jugendpolitische Konzepte und Mitbestimmungsmöglichkeiten in den Kommunen offensiv weiterzuentwickeln und strukturell zu verankern, um die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen auf kommunaler Ebene in NRW zu stärken. Außerdem wird ein NRW-weites Netzwerks engagierter Kommunen aufgebaut, um den interkommunalen Austausch und die landesweite Diskussion zur eigenständigen Jugendpolitik zu intensivieren.

Kommunale Jugendpolitik: Was braucht es?

Aus Sicht der Servicestelle braucht es ein abgestimmtes Handeln von Jugendlichen, Politik, Verwaltung und Fachkräften der Jugendhilfe über eine legitimierte, kommunal-jugendpolitische Beteiligungsstrategie. Diese Abstimmung resultiert in eine Haltung der jugendpolitisch handelnden Personen, die von Anerkennung, Transparenz und Wertschätzung geprägt sein sollte. Die Strategie sollte strukturell, finanziell und personell verankert sein. Darüber hinaus sollten Jugendliche befähigt werden, ihre Bedürfnisse und Interessen eigenständig zu artikulieren. Bei der Überprüfung und Weiterentwicklung jugendpolitischer Strategien sollte Kontinuität vorherrschen.

Vorhandene Strukturen in NRW

In der Jugendbroschüre zum 15. Kinder- und Jugendbericht  (15. KJB, 2017) des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) heißt es: „Die Zusammenschlüsse der Jugendverbände, die Jugendringe, besitzen zwar das Potential, jugendliche Interessen in kommunalen Gremien wie den Jugendhilfeausschüssen zu vertreten. Dieses wird jedoch nicht umfassend ausgeschöpft. Ein Grund dafür ist, dass es Jugendringe nur in 68% der Jugendamtsbezirke gibt (15. KJB S. 421). Zudem sind sie personell eingeschränkt. So beschäftigt fast jeder dritte Jugendring keine hauptberuflichen Mitarbeiter*innen (15. KJB, S. 421). Solche Jugendringe können ihrer Aufgabe, die Interessen von Jugendlichen zu vertreten, folglich nur wenig Zeit und Engagement widmen.“ (S. 37) Dazu ergänzt Christian Brüninghoff, dass sich diese Zahlen auf alle Bundesländer beziehen und durch die Sonderstellung der Jugendringe in Bayern verzerrt werden. In NRW gebe es zwar in 186 Jugendamtsbezirken 120 Jugendringe, aber nur in 13 % der Fälle erhalten diese Jugendringe auch Strukturförderung.

Jugendringe sind hauptsächlich ehrenamtlich getragen und werden nur geringfügig mit Ressourcen für hauptamtliches Personal versorgt. Die (Jugend-)Lobbyarbeit von Jugendringen kann deshalb auch nicht vollumfänglich geleistet werden. In der Bestandsaufnahme der kommunaler Kinder- und Jugendförderpläne (KJFP) in NRW von 2017 konnte den Förderplänen aus Sicht des LJR NRW höchstens mittlere Qualität attestiert werden. Entweder wurde gar kein Förderplan geschrieben oder es gab konzeptionelle Schwächen im KJFP. Konsistente Zusammenhänge zwischen Beteiligungsplanung, Realisierung und Evaluation waren nicht eindeutig zu erkennen.

Zusammenfassend kann festgestellt werden: Beteiligung ist trotz aller Bemühungen vom Engagement einzelner Personen abhängig, die Ausstattung ist meist unzureichend, und Aktivitäten haben in der Regel keine langfristige Lebensdauer. Was fehlt, sind nach wie vor die Umsetzung über jugendpolitische Strategien im Rahmen von Stadtentwicklungsprozessen. Insofern ist Beteiligung immer noch keine Selbstverständlichkeit.

Das Projekt #jungesnrw: Perspektiven vor Ort

#jungesnrw ist ein Projekt des Landesjugendrings NRW (LJR NRW). Es verfolgt das Ziel, landesweit nachhaltig arbeitsfähige jugendpolitische Strukturen zu etablieren. Es will die Prozessqualität in Förderplanungsprozessen verbessern, die Jugendarbeit (re)politisieren und Partner*innen für die Stellung der Jugendringe und weiterer Formate sensibilisieren. Der LJR NRW vernetzt, begleitet, berät und qualifiziert hierfür kommunale Jugendringe.

Corona und Jugendbeteiligung in NRW: zukunftssicher?

Im Rahmen seiner Arbeit hat der LJR NRW diverse Beobachtungen gemacht. Er hat festgestellt, dass sowohl Schüler*innenvertretungen als auch Jugendringe bislang übergangen wurden und es eine große Uneinheitlichkeit im kommunalen Krisenmanagement gab. Die fehlende Teilhabe junger Menschen wurde nicht wahrgenommen. Nach Ansicht des LJR NRW fehlen etablierte Strukturen sowie gute Kommunikationswege und -kulturen. Digitale Infrastrukturen sind noch zu wenig vorhanden. Fehlende Ressourcen werden insgesamt – durch Corona als Katalysator – noch deutlicher.

Positiv wahrgenommen wurde, dass im Lockdown ad hoc Initiativen für vulnerable Gruppen entstanden sind. Junge Menschen haben sich in Online-Formaten Alternativen zu Offline-Angeboten gesucht – wie z. B. über die Kampagne „TrotzdemSport“ der Sportjugend NRW. Oder wie in der U16-NRW-Kommunalwahl im September 2020, an der 25.000 jungen Menschen teilgenommen haben. Die hohe Wahlbeteiligung an der Wahl, trotz der erschwerten Umstände durch Corona, hat gezeigt, dass junge Menschen ihre Meinung politisch vertreten wollen und politisch interessiert sind.

Von Seiten der Fachkräfte wurde es als förderlich erlebt, dass das Ministerium, die Landesjugendämter und große Träger der Jugendarbeit gemeinsam abgestimmte FAQs zu den jeweiligen Corona-Verordnungen veröffentlichten. Außerdem fanden wöchentliche Abstimmungsgespräche statt, die als wertvoll und bereichernd empfunden wurden. Über das gewachsene Netzwerk ist trägerübergreifend kollegiale Beratung entstanden. Landesjugendämter und Landesjugendring agieren im Tandem.

Erkenntnisse aus der Diskussion: was eine krisensichere Jugendpolitik braucht

Die Teilnehmer*innen sind sich einig: es braucht angemessene Rahmenbedingungen für die Akteur*innen vor Ort. Vor allem braucht es den politischen Willen, Eigenständige Jugendpolitik umzusetzen. Vielerorts ist eine Lücke zu beobachten zwischen gesetzlichen Regelungen und gelebter Praxis, welche es zu schließen gilt. Ausreichend personelle und zeitliche Ressourcen sind unabdingbar, um erstens mit jungen Menschen und erwachsenen Entscheider*innen ernsthaft in den Austausch gehen und gemeinsam Veränderungen anschieben zu können, und um zweitens auch auf einer Meta-Ebene jugendpolitische Entwicklungen reflektieren und weiterentwickeln zu können und um drittens Gelegenheit für kollegialen Austausch und Vernetzung zu schaffen.

Freie und öffentliche Träger der Jugendhilfe sollten im Tandem mit der gegenseitigen Bereitschaft zum Perspektivwechsel zusammenarbeiten. Die Jugend(verbands)arbeit sollte grundsätzlich eine zusätzliche Stärkung erfahren. Das Ehrenamt spielt in diesem Kontext als Stütze eine wichtige Rolle. Eigenständige Jugendpolitik braucht fachübergreifende Kooperation. Ressortübergreifendes Agieren ist komplex und vielerorts noch in den Kinderschuhen. Hier braucht es den Willen, gemeinsame Ideen der Umsetzung in einem fehlerfreundlichen Miteinander auszuprobieren. Es ist stets angeraten, dass sich Akteur*innen in diesem Feld externe beratende/begleitende Expertise mit ins Boot holen (z.B. bei den landesweiten Servicestellen und ähnlichen Akteur*innen): keine*r muss oder soll das Rad neu erfinden.

Beitrag aus der Online-Veranstaltung "Treffpunkt Jugendpolitik" vom 14.12.2020