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Home > Eigenständige JugendpolitikGewaltig pauschal - Debatte zur Jugend

(24.03. 2023) Dieser Artikel betrachtet die Pauschalisierung von Jugend(bildern) in der Öffentlichkeit. Ein Überblick zu aktuellen Stellungnahmen verdeutlicht, dass pauschale Verurteilungen von Jugendgewalt nur Stereotype zementieren, die dahinterliegenden Mechanismen aber nicht lösungsorientiert angehen.

Vier junge Menschen sitzen auf einer Treppe, es sind nur die Beine und Füße zu sehen. Vier junge Menschen sitzen auf einer Treppe, es sind nur die Beine und Füße zu sehen.
Foto: G. marcel via unsplash.com

Jugend ist vielfältig und braucht Anerkennung
Die Eigenständige Jugendpolitik fördert ein realitätsnahes Image von Jugend. Zu oft wird durch Medien und Politik das Bild einer orientierungslosen oder versagenden, schwierigen oder gewaltbereiten Jugend vermittelt – Pauschalisierungen, die die Realität nicht widerspiegeln. Die Akteur*innen einer Eigenständigen Jugendpolitik wenden sich gegen diese einseitige Betonung vermeintlicher Unzulänglichkeiten. Ziel muss es sein, Jugendlichen ernsthaft Anerkennung zu verschaffen und ihnen die Unterstützung und Freiräume zu bieten, die sie für ihre Entwicklung zu eigenständigen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten brauchen. Deshalb braucht es eine Politik, die Jugend nicht nur bei Problemanzeigen wahrnimmt, sondern Jugendpolitik als querschnittliches Politikfeld anerkennt und mit Leben füllt – auch außerhalb von Krisen- und Wahlkampfzeiten.

„Die“ Jugendgewalt: Stigmatisierung junger Menschen
Die eine Jugend gibt es nicht – genauso wenig gibt es „die“ Jugendgewalt. Dennoch werden pauschale Jugendbilder genutzt, um Jugend im gesellschaftlichen Diskurs zu „sortieren“, (Einzel-)Phänomene zu erklären und Ereignisse zu verallgemeinern. Ein problematisches Jugendbild entsteht, wenn Einzelfälle - etwa mit Blick auf Gewalt, Kriminalität, Extremismus oder Sucht – medial dramatisiert oder in Stereotypen verallgemeinert werden. Zudem zeigen sich unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe für ähnliche Phänomene, deren einziger substanzieller Unterschied der Phänotyp der jeweiligen Jugendlichen ist. Es bedarf daher einer differenzierten Betrachtung, um für Aufklärung zu sorgen und um stigmafreie, lösungsorientierte Ansätze sowie Präventionsmaßnahmen in den Mittelpunkt zu stellen.
Eine Reihe von Akteur*innen haben sich mit Stellungnahmen oder Statements zu Wort gemeldet, um auf die jüngste Debatte zum Thema anlässlich der Gewalt während der Silvesternacht zu reagieren:

  • Kritik aus der Kinder- und Jugendhilfe

Die Diakonie reagierte auf die mediale Debatte mit einer Forderung nach einer Versachlichung der Diskussion. Es solle für Jugendliche strukturelle Verbesserungen geben und die Jugendsozialarbeit solle eine stabilere Finanzierung erhalten. Aufgabe sei die Integration all jener, die sozial abgehängt seien, sich hilflos fühlten und sich über Gewalt profilierten. „Silvester hat wieder einen bekannten politischen Reflex erzeugt: Unsere Jugend soll die Härte des Gesetzes spüren, während der Jugendtreff bestenfalls einen neuen Anstrich bekommt“, kritisierte Diakonie-Vorständin Andrea Asch.  (zur Stellungnahme)

Zuletzt hat sich die AGJ mit einem Zwischenruf zum Thema Jugendbilder zu Wort gemeldet und tritt darin für einen differenzierten Blick auf junge Menschen ein sowie für Teilhabe und Zusammenhalt anstatt Ressentiments. Trotz der Möglichkeiten der Jugendhilfe könne sie nicht allein die Folgen einer verfehlten Sozialpolitik ausgleichen. Hierzu sei ein abgestimmtes Zusammenwirken mit anderen Akteur*innen und Ressorts vonnöten. Die AGJ fordert das stärkere ressortübergreifende Handeln für die junge Generation, bessere Zusammenarbeit verschiedener Rechtskreise, eine verlässliche und auskömmliche soziale Infrastruktur sowie mehr Freiräume für Jugend.

  • Einordnung durch die Jugendgerichtshilfe

In seiner Stellungnahme positioniert sich die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe (DVJJ) deutlich gegen pauschale Verurteilungen junger Menschen und formuliert konkrete Erwartungen an die Politik. Unter anderem fordern sie Polizeibeamt*innen mit besonderem Jugend-Bezug sowie spezialisierte Jugendstaatsanwält*innen und Jugendrichter*innen. Zudem spricht sich der Verband für ein vernetztes, gemeinsames Handeln der Akteur*innen verschiedener Rechtskreise aus, um den individuellen Ursachen gerecht zu werden und präventiv wirksam zu werden. Zugleich mahnt er zur Besonnenheit der Strafverfolgungsbehörden gerade in Fällen öffentlichkeitswirksamer Straftaten: „Dazu gehört bei der Beteiligung jugendlicher und heranwachsender Straftäter*innen gegebenenfalls die Anwendung des Jugendstrafrechts. Hier ist alleiniger Maßstab sämtlicher jugendstrafgerichtlicher Sanktionen der Erziehungsgedanke. Dieser gebietet, die Sanktionen so zu wählen, dass sie im Einzelfall möglichst weitere Straftaten verhindern.“

  • Mahnung von Demokratie-Akteur*innen

Auch Akteur*innen im Bereich Rassismusprävention fordern eine vorurteilsfreie, fokussierte und sachliche Debatte. So macht etwa die Amadeu-Antonio-Stiftung in einer Stellungnahme darauf aufmerksam, dass Ressentiments gegenüber migrantischen Jugendlichen den Blick auf die vielfältigen Hintergründe verhindern, darunter Männlichkeitsbilder und Gruppendynamiken: „Dabei sind die Ursachen für die Eskalationen nicht in Migrationsgeschichten zu suchen, sondern vielmehr in einem Mosaik aus erlernter Gewaltbereitschaft, gefühlter Perspektivlosigkeit, mangelnder Teilhabe, gefährlichen Männlichkeitsbildern und einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Repräsentant*innen“, so die Bewertung der Amadeu Antonio Stiftung.

  • Reaktionen der Politik

Bundesjugendministerin Lisa Paus sprach sich in der Aktuellen Stunde zur Silvesternacht im Bundestag für eine Versachlichung der Debatte aus. Jugendgewalt sei seit Jahren rückläufig und kein Migrationsthema, betonte die Ministerin in ihrer Rede vom 19. Januar 2023.
Das Land Berlin hat im Januar 2023 mit einem ersten Jugendgipfel reagiert und aktuelle Bedarfe ermittelt: Jugendarbeit, Gerichtshilfe, Schulen - hier wurden viele Akteur*innen beteiligt, die die Rahmenbedingungen für das Aufwachsen schaffen. Konkrete Maßnahmen für 2023 und 2024 wurden bereits entwickelt und von der Senatskanzlei als Initiative für mehr Respekt nach einem zweiten Gipfel im Februar 2023 vorgestellt.

  • Wissenschaft rät zur differenzierten Betrachtung

Zu den Ursachen von (Jugend-)Gewalt gehören soziale Ausgrenzung, Frustration, Arbeits- und Perspektivlosigkeit sowie gruppendynamische Phänomene. Vertreter*innen der Sozialpsychologie und Gewaltforschung machten bei der Ursachenforschung auf die Bedeutung von Gruppendynamiken aufmerksam. Raum zu okkupieren bildet nach Ansicht von Sozialpsycholog*innen eine Art Identifikationspunkt einer sonst heterogenen Gruppe, aus der heraus sich der*die Einzelne stark und mächtig fühlen kann und in der ein wechselseitiges Hochschaukeln erfolgt. Die Eskalation spitzt sich weiter zu, wenn Rettungskräfte und die Polizei als Repräsentant*innen des sie benachteiligenden Staates gesehen werden, die nicht in diesen Raum vordringen sollen, und nicht als Helfer*innen und Menschen identifiziert werden, die für die Versorgung dieses Raums von Bedeutung sind. In der Debatte äußerten sich dazu beispielsweise der Psychologe Kazim Erdogan (Artikel) und der Gewaltforscher Prof. Dr. Andreas Zick (Interview).

Dass es zur Jugendgewalt bereits seit längerem fundierte Studienerkenntnisse und daraus resultierende Empfehlungen gibt, zeigen zudem verschiedene Publikationen, darunter der Leitfaden zur systemischen Prävention von Jugendgewalt.
Darin wird die Bedeutung des Umfeldes nochmals unterstrichen: „Um das Verhalten der gewalttätigen Jugendlichen zu verändern und Risikofaktoren, die zu gewalttätigem Verhalten führen, zu minimieren, müssen sich Umgebung und Umfeld der Jugendlichen ändern. [...] Die Prävention von Jugendgewalt ist nur dann erfolgreich und nachhaltig, wenn sie auf die Bedürfnisse der Jugendlichen und die kontextspezifischen Ursachen eingeht. Von daher steht während des gesamten Planungsprozesses der Jugendliche im Mittelpunkt. Auch dann, wenn die zu planende Präventionsmaßnahme auf nationaler Ebene ansetzt und strukturelle, institutionelle Veränderungen hervorgerufen werden sollen“.

Vor pauschalen Verurteilungen und einem einseitigen „Reden über die Jugend“ warnte bereits Prof. Dr. Benno Hafeneger in einem Beitrag 2014: „Mit dem »Reden über die Jugend« haben wir es mit einem Phänomen zu tun, bei dem es weniger um empirische Vielfalt und Differenzierungen von jugendlichen Wirklichkeiten und Lebenswelten oder um empirische Befunde aus soliden Jugendstudien als um das erwachsene Bedürfnis des »verallgemeinerten Redens« über eine ganze Generation geht. Es gibt in der Generationenfolge bzw. in der Erwachsenengesellschaft scheinbar immer wieder neue Bedarfe und eine Suche nach Vergewisserung, sich mit der nachwachsenden Generation zu befassen, über sie zu reden, sich ihrer zu vergegenwärtigen, sie zu diagnostizieren und Vorschläge für den weiteren politischen, gesellschaftlichen und pädagogischen Umgang mit ihr zu machen.“
Daraus folgt: wenn Jugendbilder nicht empirisch gebunden und differenziert sind, haben sie keinen aufklärenden Charakter, sondern sie stimulieren ein problematisches Reden über Jugend – und können zur Stigmatisierung einer ganzen jungen Generation beitragen.

Schlussfolgerungen
Wenn junge Menschen in der Öffentlichkeit auffallen, werden rasch Stereotype bedient und politischer Handlungswille demonstriert. Jedoch braucht es eine Politik, die Jugendinteressen nicht nur bei Problemanzeigen wahrnimmt, sondern Jugendpolitik als querschnittliches Politikfeld anerkennt und mit Leben füllt. Damit Politik und Verwaltung im Interesse junger Menschen handeln können, müssen Informationen geteilt, Strukturen umgestaltet und Verbindlichkeiten geschaffen werden. Es braucht gemeinsame, weitreichende Strategien der relevanten Politikfelder - dazu gehören insbesondere Jugend, Bildung, Soziales, Arbeitsmarkt, Familie, Inneres, Gesundheit, Wirtschaft, Verbraucherschutz, digitale Infrastruktur sowie Verkehr-/Bau-/Stadtentwicklung. Und es würde einen relevanten Unterschied machen, wenn Medien ein realistisches, positiveres Bild von jungen Menschen zeigen würden, unabhängig von (negativen) Ereignissen.

jugendgerecht.de, Februar 2023

Quellen:

  • Diakonieportal: "Silvester: 'Einladung zum Scheiße bauen'". (11. Januar 2023, hier)
  • Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe: "Zwischenruf "Schon wieder diese Jugend!? Pauschalen Jugendbildern in Politik und Medien entgegenwirken. Zwischenruf der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ"; (22. Februar 2023, hier)
  • Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V.: "Gewaltige Anstrengungen gegen Gewalt. Stellungnahme des Vorstands und der Geschäftsführung der DVJJ zur Silvesternacht 2022/2023" (9. Januar 2023, hier)
  • Amadeu Antonio Stiftung: "Gipfel gegen Jugendgewalt in Berlin: Statt neuer Parallelstrukturen müssen bestehende Ansätze ausgebaut werden". (10. Januar 2023, hier)
  • Bundesjugendministerium: "Lisa Paus warnt vor vorschnellen Bewertungen und Verurteilungen" (19. Januar 2023, hier)
  • Senatskanzlei der Regierenden Bürgermeisterin: "Ergebnisse des Gipfel gegen Jugendgewalt"(11. Januar 2023, hier),
    "Zweiter Gipfel gegen Jugendgewalt – Initiative für Mehr Respekt" (22. Februar 2023, hier)
  • Evangelischer Pressedienst: "Psychologe: Silvester-Gewalt soziales Problem, kein ethnisches". (5. Januar 2023, hier)
  • die tageszeitung: "Sozialpsychologe über Gewalt an Silvester: 'Einflussreich und mächtig agieren'". (5. Januar 2023, hier)
  • Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH: "Systemische Jugendgewaltprävention. Ein Leitfaden zur Planung und Umsetzung von maßgeschneiderten Maßnahmen der Jugendgewaltprävention". (2010, hier)
  • Benno Hafeneger: "Reden über die junge Generation" in "neue praxis 1/15" (2014, in Auszügen einsehbar hier)