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(20.07.2022) Queere Jugendarbeit hat - insbesondere in den letzten Jahren - massiv an Bedeutung gewonnen. Dennoch erleben queere Jugendliche immer noch Berührungsängste, Vorbehalte und Diskriminierungen. Im Gespräch mit jugendgerecht.de geben zwei Expert*innen aus der queeren Jugendarbeit Einblicke in ihr Feld.

Jugendliche Teilnehmende bei einem CSD, Foto: Christian Lue / unsplash.com Jugendliche Teilnehmende bei einem CSD, Foto: Christian Lue / unsplash.com
Jugendliche Teilnehmende bei einem CSD, Foto: Christian Lue / unsplash.com

Unsere Gesprächspartner*innen sind Laura Seyfang von der Landesfachstelle Hessen Queere Jugendarbeit und Torsten Schrodt, u.a. von der Fachberatungsstelle "gerne anders!" in Nordrhein-Westfalen. Das Gespräch fand als Videointerview am 12. Juli 2022 statt und wurde hinterher für die Textform aufbereitet.

jugendgerecht.de: Könnt ihr euch einmal vorstellen, wer ihr seid, wo ihr arbeitet und was ihr da macht?

Laura Seyfang: Das mache ich gern. Mein Name ist Laura Seyfang, ich arbeite seit April 2021 bei der Landesfachstelle Hessen Queere Jugendarbeit, die zum Hessischen Jugendring gehört. Die Landesfachstelle gibt es seit 2018 und sie ist die Fach-, Koordinierungs- und Vernetzungsstelle für queere und queersensible Jugendarbeit in Hessen. Ich bin Projektreferentin, das heißt, ich koordiniere die Arbeitsinhalte, erstelle unsere Publikationen und Arbeitsmaterialien, biete bestimmte jährlich stattfindende Workshops an, mache dafür die Themenauswahl und lade Referent*innen ein. Durch runde Tische vernetzen wir die Communitystrukturen im weitesten Sinne, also alle möglichen queeren Einrichtungen wie Jugendzentren, Gruppen etc. mit der Jugendarbeitslandschaft in Hessen.

Torsten Schrodt: Mein Name ist Torsten Schrodt. Ich bin mittlerweile seit 23 Jahren im Feld und eher der Dino. Jobmäßig bin ich zweigeteilt: Ich bin zum einen Geschäftsführer des SVLS e. V., wir sind Träger von sechs überwiegend kommunal geförderten LSBT*I*1-Jugendeinrichtungen. Zum anderen bin ich Leiter der NRW-weit tätigen Fachberatungsstelle „gerne anders!". Wir koordinieren und vernetzen nicht die LSBT*I*-Jugendarbeit selbst, das macht bei uns in NRW die „Queere Jugend NRW". Unsere Aufgabe ist es, die allgemeine Jugendarbeit, also die Jugendverbände, die über 2000 Jugendzentren, die vielen Kommunen zu sensibilisieren und fortzubilden zum Thema LSBT*I*-Jugendliche. Wir möchten möglichst alle Jugendarbeiter*innen als Kämpfer*innen für Akzeptanz und Gleichberechtigung innerhalb des Feldes gewinnen. Das machen wir mittlerweile seit neun Jahren, sehr erfolgreich.
Wir haben dabei einen Ansatz, dass wir auf der einen Seite dahin gehen, wo wir eingeladen werden. Es gibt also Kommunen, Einrichtungen oder auch Jugendverbände, die sagen: Unsere Mitarbeiter*innen wollen sich in diesem Feld weiterqualifizieren, sich dem Thema öffnen – diese Prozesse begleiten wir dann. Ein weiterer Schwerpunkt ist aber tatsächlich, dass wir auch genau da hingehen, wo wir nicht hin gerufen werden. Dort erleben wir oft auch Widerstände und es hat dann oft etwas von „Türen eintreten", um die Verantwortlichen zu überzeugen, dass das Thema auch für sie wichtig ist. Hierbei definieren wir jedes Jahr ein Schwerpunktregion in NRW, die wir systematisch bearbeiten.

jugendgerecht.de: Danke! Daran schließt die Frage an, wie ihr als Fachkräfte die Lebenslagen der queeren Jugend wahrnehmt. Gab es da in den letzten Jahren Fortschritte oder Rückschritte, wo sind aktuell die Herausforderungen für LSBT*I*-Jugendliche in Deutschland?

Torsten Schrodt: Die Frage ist verdammt schwierig zu beantworten – geht es nach vorne, nach hinten, ist es gleich? Meiner Wahrnehmung nach ist es extrem unterschiedlich. Die Communities haben in einigen Bereichen unheimlich viel erreicht: Es gab im rechtlichen Bereich sehr viele wichtige, zentrale Schritte und es gibt sie auch weiterhin – ganz aktuell z. B. das Selbstbestimmungsgesetz2, das endlich auf den Weg gebracht wird. Das wirkt natürlich auf die Lebenswelten und auch auf die gesellschaftliche Akzeptanz. Das merkt man sehr deutlich, auch anhand von Studien: Immer dann, wenn ein Land sich entscheidet, nach vorne zu gehen, zieht auch die Bevölkerung, die sich vorher weniger mit den Themen befasst hat, in weiten Teilen mit. Und es gibt dann auch nachweislich weniger harte familiäre Konflikte bei jungen LSBT*I*. Aber – ich komme jetzt mal zur Schattenseite – wenn jetzt nicht mehr 45% der Eltern es furchtbar finden, wenn das eigene Kind schwul, lesbisch oder trans* ist, sondern nur noch 30%, dann hilft das der einzelnen jungen Person relativ wenig, weil die vorher ja nicht weiß, wie es bei ihr sein wird. Das heißt, die zentralen Belastungsfaktoren, die schon 1998 in der ersten Studie, die ich kenne, zu Lebenswelten von jungen Schwulen und Lesben herausgekommen sind, sind immer noch gegeben: die Situation der Angst, der Sorge, des Nicht-Wissens, wie das eigene Umfeld, die Familie, der Freundeskreis mit dem Outing umgehen.
Weiterentwicklung haben wir sicher im Bereich „geschlechtliche Vielfalt". Als ich mit der Arbeit angefangen habe, sprachen wir nicht von trans* und inter* Jugendlichen. Es gab schwullesbische Jugendarbeit, die damals auch noch mehr als heute männlich dominiert war. Es gab also eine schwule Jugendarbeit und kleine Pflänzchen lesbischer Mädchenarbeit. An dieser Stelle ist in den letzten Jahrzehnten verdammt viel passiert. Was die Sichtbarkeit von trans*, inter* und nicht-binären Jugendlichen angeht vor allem in den letzten Jahren. Dadurch werden die Gruppen, mit denen wir arbeiten, deutlich diverser. Wir haben also keine relativ homogene Gruppe mit ähnlichen Lebensbedingungen mehr, die wir dann gemeinsam stärken können. Ich versuche immer deutlich zu machen, dass LSBT*I*-Jugendliche eben keine homogene Gruppe sind. Es ist eher eine Wohngemeinschaft mit Menschen, die sehr unterschiedliche Lebenslagen haben, die auch sehr unterschiedlich – ich möchte das gar nicht gewichten – diskriminiert werden, daher sehr unterschiedliche Handlungsstrategien entwickeln müssen und sehr unterschiedlich empowert werden müssen.
Das ist ein Punkt, den ich kritisch finde im Diskurs Jugendarbeit und Jugendpolitik: Zu häufig wird alles in einen Topf geschmissen und so getan, als ob alle LSBT*I* dieselbe Form der Stärkung brauchen. Ich möchte das am Beispiel Sport deutlich machen: Wenn ich in einer Studie lese, dass LSBT*I*-Jugendliche weniger Sport machen, dann ist das erst mal richtig. Gucke ich mir die Unterzielgruppen aber genauer an, dann sehe ich: es ist nur partiell richtig. Denn schwule Jungs und trans Frauen sind völlig unterrepräsentiert im Vergleich zu cis3 Frauen und heterosexuellen Jungs, während lesbische Mädchen sehr viel häufiger Sport machen als heterosexuelle Mädchen und fast schon die heterosexuellen Jungs erreichen. Das bedeutet nicht, dass lesbische Mädchen keine Probleme im sportlichen Bereich haben. Das bedeutet aber, dass ich unterschiedliche Ansatzpunkte habe, zielgruppengerecht zu unterstützen. So ist meiner Ansicht nach eine der größten Herausforderungen für uns, genau diese Differenzierung deutlich zu machen. Mir ist auch wichtig, das auch sprachlich deutlich zu machen. Ich spreche daher eher von LSBT*I* oder benenne noch lieber die einzelnen Gruppen, um damit jeder Gruppe angemessene Sichtbarkeit zu geben. Dies ist aus meiner Sicht ein gewichtiger Nachteil des gemeinsamen Begriffes „queer".

Laura Seyfang: Da ist ganz viel dabei, was ich auch so beschreiben würde. Nochmal kurz auf die Lebenslagen generell bezogen: Ich würde auch sagen, es ist ein ewiges Auf und Ab, im Großen und Ganzen ist es besser geworden. Allein, was Repräsentation und Sichtbarkeit angeht, haben Kinder und Jugendliche heutzutage so viel mehr Möglichkeiten, Begriffe und Identitäten kennenzulernen, sich zu orientieren und auszusuchen, was passt – das ist fantastisch. Es geht natürlich immer noch besser und immer noch mehr, aber durch Social Media, Serien, Filme, Musik… es klingt so platt, wenn wir immer auf die sozialen Medien verweisen, aber das spielt einfach eine wichtige Rolle. Wir nehmen wahr, dass Jugendliche in Angeboten, mit denen wir zu tun haben, beispielsweise bei Jugendtreffs oder in Jugendverbänden, teilweise schon einen ganz anderen Zugang zur Welt haben, und das ist unglaublich gut und wichtig. Sie kennen Begriffe, die wir Fachkräfte frühestens mit Ende 20 kennengelernt haben. Parallel dazu passiert, wie in so vielen Bewegungen, dass manchmal auch der Gegenwind nochmal mehr oder anders spürbar wird. Aktuell beispielsweise die Diskussionen ums Selbstbestimmungsgesetz, das Aufbrechen von Zweigeschlechtlichkeit in Bezug auf trans Identitäten: Da werden überall krass transfeindliche Stimmen in Zeitungen und Feuilletons gebracht. Das lesen junge Leute auch. Da kommt es immer wieder zu Aushandlungen und Kämpfen. Gegenstimmen werden gerade sehr sichtbar gemacht und kommen in einer Bevölkerung an, die die Begriffe vorher auch gar nicht kannte.
Was ich auch beobachte, ist, dass alles rund um queer und geschlechtliche/sexuelle Vielfalt auch von gegnerischer Seite sehr mit dem Fokus „tausende Geschlechtsidentitäten" gesehen wird und ganz leicht abgewiegelt werden kann mit „jetzt kommt uns nicht mit noch mehr Begriffen! Ihr habt doch alles, es gibt irgendwie Antidiskriminierungsgesetze, passt doch jetzt", und dann kommt die Jugend und „erfindet" neue Begriffe. Gleichzeitig ist das in den letzten Jahren auch ein Fokus in queerem Aktivismus gewesen, Begriffe und queere selbstbestimmte Identitäten vielleicht ein bisschen in den Mittelpunkt zu rücken und damit andere wichtige politische Fragen etwas weniger zu vermitteln. Das kommt jetzt sozusagen wie eine Art Boomerang zurück, nämlich dass andere denken, es gehe eigentlich nur noch um selbstbestimmte Identität und alles andere sei erreicht. Ich glaube, damit strugglen junge Jugendliche auch gerade – eine riesige Vielfalt von Möglichkeiten, die immer mehr jungen Menschen zugänglich wird und immer wieder dieser Backlash von konservativer Seite und von Menschen, die sehr präsent wurden innerhalb der letzten zweieinhalb Jahre während der Pandemie. Es verbindet sich leider auch sehr mit Stimmen aus rechten Lagern, die auch transfeindliche Meinungen sichtbar und hörbar machen.
Ich glaube schon, dass es extrem wichtig ist, einerseits diesen Überbegriff „queer" zu verwenden und als gemeinsames Ziel weiter zu verfolgen, andererseits aber eine ganz konkrete, intersektionale Ausdifferenzierung zu machen – auch in den Angeboten wie z. B. den Jugendfreizeitangeboten und da zu sagen, dass es auch ganz bestimmte Dinge für trans, nicht binäre, oder intergeschlechtliche Jugendliche braucht. Es sind nicht alle Queers auf die gleiche Art queer und erfahren dasselbe.

Torsten Schrodt: Ich würde da gern kurz ergänzen: Gerade, was die Intersektionalität angeht, müssen wir sehr aufpassen. Ich merke das gerade auch in der Praxis der Jugendarbeit. Was die Lebenssituation von LSBT*I* Jugendlichen angeht, kommt es sehr drauf an, in welcher Straße ich aufwachse, auf welche Schule ich gehe, welchen Job ich wählen möchte oder gewählt habe. Während die einen sicherlich ganz viel Freiheit feiern können, sollen, dürfen, geht es anderen damit ganz anders.
Ich möchte gern an das anknüpfen, was auch Laura gesagt hat: es sind auf der einen Seite die Unverbesserlichen, die immer dagegen sind, die immer gemotzt haben, aber tatsächlich nehme ich durchaus auch wahr, dass in der wohlmeinenden Bevölkerung – ich möchte es erstmal so wertneutral sagen – Irritationen entstehen, die zu Abwehrreaktionen führen. Genauso übrigens auch innerhalb der LSBT'I* Jugendlichen: wenn ich in einer Jugendeinrichtung bin, habe ich zum Beispiel eine Gruppe schwuler Jungs, die nicht den Luxus hatten, in einer bildungsstarken Familie aufzuwachsen. Die kennen vielleicht den Begriff schwul, und dann steht denen eine trans Person gegenüber. Gegenseitig wird dann erwartet, dass von Beginn an eine hohe Sensibilität für die unterschiedlichen Lebensrealitäten besteht. Dass das zu Konflikten führt, ist ganz selbstverständlich.
Es ist wichtig, jede LSBT*I*-Person oder -Gruppe und auch jede andere Bevölkerungsgruppe abzuholen, wo sie steht. Dazu braucht es Akzeptanz. Ich unterstelle immer erstmal, dass wir die meisten Menschen mitnehmen können. Dies sollte meiner Ansicht nach auch der Anspruch sein. Dass dies gelingen kann, wird mir in der Arbeit der Fachberatung immer deutlich.
Meine Kollegin und ich erleben oft, dass auch sehr freundliche Jugendarbeiter*innen am Anfang die Nase rümpfen, sich aber nicht trauen, etwas zu fragen. Oft haben sie die Sorge, den ein oder anderen Begriff falsch zu verwenden und dann die totale Gegenwehr zu erleben.
Wir achten in unseren Fortbildungen also sehr darauf, die Möglichkeit zu sprechen zu eröffnen: „Ihr dürft hier erst einmal alles sagen, und wenn ihr einen ungünstigen Begriff verwendet, ist das erstmal völlig okay. Es ist das Wort, das ihr gelernt habt. " Es ist dann unsere Aufgabe zu vermitteln, welche Begriffe passender sind und natürlich auch die Gründe dafür.
Eine solche Akzeptanz erwarte ich übrigens nicht von jungen LSBT*I* selbst. Die haben das Recht ganz klar Sensibilitäten einzufordern und auch auf die Barrikaden zu gehen. Als Fachkräfte haben wir aber eine andere, wichtige Aufgabe, und zwar Verbindungen herzustellen und alle Menschen mitzunehmen, die man potenziell mitnehmen kann.

Laura Seyfang: Vielleicht noch als Bekräftigung: Die Landesfachstelle Hessen arbeitet vor allem mit ehren- und hauptamtlichen Fachkräften aus allen möglichen Feldern der Jugendarbeit zusammen, ist also selten im direkten Kontakt mit Kindern und Jugendlichen. Ich würde sagen, da ist unsere Herangehensweise total ähnlich. Wir erklären alles von Grund auf und sind nicht böse, wenn das jemand nicht sofort versteht, und wir beantworten gern auch zehn Mal Fragen nach Möglichkeiten der selbstbestimmten Einteilung von zum Beispiel Zelten auf Freizeiten und warum es viel weniger kompliziert ist, als manche denken. Wir machen auch die Erfahrung, dass das total sinnvoll ist und gut klappt. Ich würde sagen, alle, die sich uns anhören, sind ja auch gewillt, die wollen wir auf keinen Fall verlieren oder vor den Kopf stoßen. Davon abgesehen sind ja nicht nur Jugendliche (potentiell) queer – sondern auch erwachsene Ehren- und Hauptämtler*innen.

Torsten Schrodt: Dadurch, dass wir nicht nur auf Einladungen warten, sondern uns auch aufdrängen, haben wir auch mit Gruppen zu tun, von denen sich nicht alle ganz freiwillig zur Teilnahme entschieden haben. Sie wurden teilweise dienstverpflichtet, und da merkt man deutliche Unterschiede. Es ist total spannend, die – oft konfliktträchtigen - Dynamiken von diesen Teams zu erleben, die von ihrer eigenen Haltung und ihren Erfahrungen her sehr unterschiedlich sind. Damit am Ende alle an einem Strang ziehen können, müssen diese ausgetragen werden. 
Es macht auch einen totalen Unterschied, in welcher Region oder bei welchem Träger wir tätig sind. Das wird wahrscheinlich in den Jugendverbänden in Hessen auch so sein. Wir müssen jedes Mal ganz individuell neu ansetzen. 
Und um noch einmal zurück zur Eingangsfrage zu kommen, was sich entwickelt hat: ja, natürlich hat sich viel entwickelt, aber eben auch sehr unterschiedlich, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und leider auch in unterschiedliche Richtungen.

jugendgerecht.de: Daran möchten wir gern anschließen mit der Frage, welchen Beitrag queere Jugendarbeit für die Jugendhilfe allgemein leistet.

Laura Seyfang: Ich würde das so erklären, dass queere Jugendarbeit allein dadurch, dass sie eine Sensibilisierung für Queerness bei Personen und Einrichtungen zum Ziel hat, also neben der Arbeit mit queeren Zielgruppen, den Diskurs weitet und beeinflusst. Ihr liegt die Annahme von Diversität zugrunde und das Thematisieren gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Genauso, wie es auch andere diversitätssensible, diskriminierungskritische Schwerpunkte in der Jugendarbeit tun, beispielsweise die Rassismuskritik.
Wenn wir als Jugendarbeiter*innen und Jugendleiter*innen und politische Bildner*innen tätig sind, ist unsere Prämisse ja eh, ganz diverse Jugendliche da abzuholen, wo sie im Leben stehen und sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu begleiten. Die queere Jugendarbeit trägt dazu unter anderem bei, indem sie für die Sensibilisierung für LSBT*I*-Angelegenheiten da ist, über Qualitäten und pädagogische Grundhaltungen reflektiert und das Empowerment und die Selbstorganisierung queerer Jugendlicher unterstützt. Das nimmt dann auch die Sorge mancher, dass man selbst total queer sein müsste, um queere bzw. queersensible Jugendarbeit machen zu können und dass man da ganz viel Fehler machen könnte. Mir geht es in erster Linie um eine pädagogische Grundhaltung, die ich entwickle, und dazu trägt queere Jugendarbeit unserer Meinung nach bei.

Torsten Schrodt: Dann komme ich jetzt mal von der anderen Seite, nämlich von der Arbeit mit LSBT*I*-Jugendlichen selbst. Sie ist Teil der Jugendarbeit, und ich finde zur Beschreibung den Begriff der Grundversorgung sehr passend. Es ist faktisch so, dass junge LSBT*I* vor allem Schwierigkeiten mit Gleichaltrigen haben, die selbst in der Pubertät sind und mit sich selber Konflikte auszutragen haben und oft auch nicht wissen, wo sie stehen. Das ist die Gruppe, von der die meiste spürbare Diskriminierung, Verächtlichmachung und Ausgrenzung ausgeht. Diese Diskriminierung und Ausgrenzung durch Gleichaltrige oder auch nur die Angst davor ist der Hintergrund, warum viele junge LSBT*I* sich zurückziehen und sich einsam fühlen. Das Gefühl von Einsamkeit, allein zu sein, die einzige Person zu sein, die so empfindet, ist nach wie vor der größte Umstand, der als Belastung erlebt wird.
Jetzt kennen sie diese anderen jungen Menschen aus Schule oder anderen Pflichtkontexten, und ihnen wird gesagt: Geh doch mal in ein Jugendzentrum. Aber da können sie nichts Anderes erwarten als die jungen Menschen, die sie schon von Schule und Co. kennen. Das heißt, egal, wie toll das Jugendzentrum, der Jugendverband vielleicht von innen tatsächlich ist: Die nachvollziehbare Vermutung von vielen jungen LSBT*I* ist häufig: „Da werde ich wieder diskriminiert, da werde ich wieder nicht gesehen als die Person, die ich bin. " Allein dies sind extreme Zugangsbarrieren. Und wenn sie dann doch reingehen, erleben sie eben auch häufig noch tatsächlich Diskriminierung verschiedenster Form. Denn es ist noch lange nicht alles im Bereich der allgemeinen Jugendarbeit akzeptierend. Da sind halt die unterschiedlichsten jungen Menschen.
Von daher ist die LSBT*I*-Jugendarbeit Grundversorgung, damit junge LSBT*I* genau das erleben können, was alle anderen Jugendlichen in Jugendarbeit auch erleben können. Und solange sich die Situation nicht grundlegend ändert, werden diese besonderen Inseln auch weiterhin notwendig sein.
Das ist der eine Aspekt, jetzt gehe ich weiter: Nicht alle LSBT*I*-Jugendlichen besuchen solche Angebote der LSBT*I*-Jugendarbeit – selbst dann nicht, wenn es so ein Angebot direkt vor ihrer Haustür gibt. Aber ich habe in den letzten Jahren interessante Rückmeldungen erhalten: Auch wenn sie selbst das Angebot nie genutzt haben, allein das Schaufenster einer LSBT*I* Jugendeinrichtung hat zum Empowerment von LSBT*I* Jugendlichen beigetragen. Auf dem Weg zur Schule oder in die Stadt nehmen sie das Schaufenster wahr und damit das Signal: „Oh, das ist in meiner Stadt. Offensichtlich ist es nicht ganz so verrückt, bescheuert, ausgegrenzt – es ist hier möglich, so zu sein. Es gibt auch andere!"
Allein das hat ihnen bereits geholfen, ihren eigenen Weg zu gehen und zu finden. Und dieses Schaufenster, oder auch eine Anzeige in der Zeitung, ist dann auch immer wieder ein Signal in die Öffentlichkeit. Umso mehr noch, wenn wir als LSBT*I*-Jugendarbeit, als Fachkräfte, die Jugendlichen stärken und empowern, damit sie selber sichtbarer werden. Damit meine ich einerseits sicherlich Aktionen zum CSD4, zum IDAHOBIT5 etc., aber vor allem auch im Alltag. Einer geouteten Person in der Schule oder der Nachbarschaft, die ganz selbstverständlich, selbstbewusst damit umgeht – dadurch passiert ganz viel. Der reale, wiederholte und oft beiläufige Kontakt führt dazu, dass Hemmschwellen auch bei den cis-heterosexuellen jungen Menschen abgebaut werden. Auch deshalb ist es so wichtig, junge LSBT*I* zu empowern.
Als Fachberatungsstelle kommen wir von einer anderen Seite. Wir versuchen, die Fachkräfte, denen ich erstmal immer unterstelle, dass sie gutmeinend sind und eine grundlegend gute Haltung sowie viel Erfahrung mit anderen Ausgrenzungsbereichen, z. B. aus der Antirassismusarbeit haben, dafür zu gewinnen, das Ganze noch zu beschleunigen, zu befördern, indem sie insbesondere bei cis-heterosexuellen Jugendlichen wirksam für Akzeptanz zu werben.
Da können wir tatsächlich – Laura hat es gerade angesprochen – anknüpfen an Erfahrungen, die Fachkräfte bereits haben. Viele glauben immer erst, es ist etwas ganz Neues, was ganz schwierig ist und ihren Alltag umkrempelt. Sie sind häufig total entlastet, wenn sie merken: Oh, ich kann mich erinnern an Workshops oder mein Studium, wo ich etwas gelernt habe, z. B. über Anti-Gewalt-Arbeit, Antirassismusarbeit oder Demokratieförderung. Es sind immer wieder Erinnerungsschritte, Kenntnisse und Strategien aus verschiedenen Bereichen die neu verbunden werden. Und tatsächlich, Laura sagte es gerade, das bereits Erlernte in Erinnerung zu rufen und hierbei die Vielfaltsperspektive der Fachkräfte zu erweitern, ist eine wichtige Funktion unserer Arbeit. Hierdurch stärken wir auch die Demokratiebildung in der Jugendarbeit insgesamt.

jugendgerecht.de: Wie nehmt ihr die politische Aufmerksamkeit und Wertschätzung für queere Jugendarbeit wahr, und wie kann Jugendpolitik auf allen Ebenen queere Jugendarbeit besser unterstützen, als sie es bisher tut?

Torsten Schrodt: Ich kann für NRW sprechen, und da bin ich total stolz auf unser Bundesland. Wir sind, glaube ich, beispielhaft, was die Entwicklung der LSBT*I*-Jugendarbeit in Deutschland angeht. Ich bin mir sehr sicher, dass es in anderen Bundesländern nicht so viele LSBT*I* Jugendeinrichtungen gibt, die überwiegend sogar auch kommunal verankert und mitfinanziert sind.
Da ist vor allem innerhalb der letzten zwei Legislaturperioden extrem viel passiert. Die Landesebene hat hierzu sowohl die Strukturen der Communities gestärkt, aber sich eben auch gezielt an die allgemeinen Strukturen der Jugendarbeit gerichtet.
Aber LSBT*I* Jugendarbeit ist nach wie vor nicht für alle jungen LSBT*I* erreichbar, insbesondere nicht außerhalb von Großstädten und Ballungszentren und ich sehe auch, dass es einen enormen Nachholbedarf gab und gibt. Jugendarbeit wurde im Prinzip in den 70er/80er Jahren massiv ausgebaut - zurecht! Es sind diese Jahrzehnte, denen wir es zu verdanken haben, dass wir so viele Jugendeinrichtungen haben. Und hier meine ich auch Räume und Gebäude.
Träger klagen zwar oft, verständlicherweise, über Renovierungsbedarfe usw., aber es gibt die großen Jugendhäuser immerhin. Diese Entwicklungschance hatte LSBT*I*-Jugendarbeit nie. In den 80er, 90er Jahren gab es noch den §1756. Ich musste mich 1998 noch rechtfertigen, wie wir es mit dem Jugendschutz halten bei speziellen Angeboten für schwule Jungs. Und als wir in den 2000er Jahren richtig angefangen haben, waren zumindest in NRW die öffentlichen Kassen nicht so voll, dass man Jugendeinrichtungen gebaut hätte, wir hatten eher Kürzungsdebatten. Das heißt, die LSBT*I*-Jugendarbeit musste sich entwickeln in Zeiten von schlechten Haushalten und Kürzungen. Die Struktur im Bereich der LSBT*I*-Jugendarbeit ist verdammt schwach gewesen. Es gab und gibt also auch in NRW einen enormen Aufhol- und Nachholbedarf.
Nach den letzten zwei Perioden bin ich sehr zuversichtlich, dass auch unsere neue Landesregierung weiterhin einen starken Fokus auf LSBT*I*-Jugendarbeit legen wird. Der Koalitionsvertrag7 zeigt, dass das auch anerkannt ist. Ich habe auch das Gefühl aus Gesprächen der letzten Legislaturperioden: In allen für mich relevanten Parteien gibt es Einsicht, dass es einen starken Förderbedarf im Bereich LSBT*I*-Jugendarbeit gibt.
Was mich nachdenklich macht ist, dass sowohl im politischen Bereich als auch wenn ich in die Behördenstruktur schaue oder das Feld der Jugendarbeit betrachte, dann sehe ich schon einen Unterschied zwischen den jeweiligen Spitzen und der Basis. Die Spitzen sind meistens sehr, sehr unterstützend, die haben das Thema begriffen und aufgegriffen – die Fachpolitiker*innen sowieso, aber auch die Oberbürgermeister*innen, die Minister*innen, Ministerpräsident*innen, Staatssekretär*innen, die gehen das alles mit. Je tiefer ich an die Basis gehe, merke ich noch, wie wichtig ist, dass genau diese Menschen mitgehen und immer wieder Flagge zeigen und die Anliegen symbolisch, aber auch tatsächlich personell und finanziell unterstützen. Nur gemeinsam können wir erreichen, dass das Thema überall ankommt, denn da haben wir tatsächlich noch eine Menge zu tun.
Auf die Frage, was muss passieren: es braucht Strukturen, die weiterhin gestärkt werden müssen. Ich bin selber Kind vom Lande und schaue da vor allem in die ländlichen Strukturen, in Regionen, wo es weit und breit überhaupt nur eine Jugendeinrichtung gibt. Ich möchte nicht so vermessen sein, dass es da eine zweite braucht, die speziell nur für LSBT*I* ist, aber wir müssen uns tatsächlich die ländlichen Strukturen sehr genau angucken. Wir müssen das Thema und vor allem die Anliegen unserer Zielgruppen politisch sichtbar halten und machen.
Auch wenn es schon oft passiert, es kann eigentlich nicht oft genug sein: Das Ehrenamt und die Power, der LSBT*I*-Jugendarbeit zu würdigen und die engagierten jungen Menschen zu unterstützen in ihrem Kampf für Vielfalt, Akzeptanz und Gleichberechtigung.

Laura Seyfang: Wo fange ich an? Ich würde sagen, wir schauen alle immer neidisch auf NRW, da sind schon echt gute Strukturen bei euch. Aber schauen wir mal auf Hessen: Hier ist queere Jugendarbeit so organisiert, dass über das hessische Sozialministerium und dessen Stabsstelle Antidiskriminierung innerhalb eines Aktionsplans für Akzeptanz und Vielfalt ganz viele verschiedene Bereiche und Projekte aus Diversitätsdiskursen gefördert werden, unter anderem auch die Landesfachstelle queere Jugendarbeit. Dabei handelt es sich aber um Projektförderungen, das heißt langfristige, nachhaltige Strukturförderungen sind in diesem Bereich immer noch schwierig. Das ist jetzt Jammern auf hohem Niveau, was unsere Landesfachstelle angeht. Wir konnten eine zweite Projektstelle an Land holen, um Angebotsentwicklung im ländlichen Raum voranzubringen. Das ist cool, aber wir sehen schon auch, dass gerade, wo Initiativen nicht über uns laufen, sondern aus der Community kommen, nur über kleinteilige Projektförderung gefördert wird. Das ist nicht gut genug.
In Hessen ist queere Jugendarbeit als Thema bekannt und wichtig, auf Verwaltungsebene natürlich vor allem bei denen, die sich auskennen – also Hausspitzen und bestimmte Ebenen, die das Thema auf dem Schirm haben. Da gibt es ganz gute Politik und Lobby. Die Angebotslandschaft wiederum zeigt hessenweit noch immer ein großes Gefälle: Wir haben eine riesige Diskrepanz zwischen städtischen Räumen, also vor allem dem Rhein-Main-Gebiet, und allem, was nicht mehr Stadt oder Einzugsgebiet ist. Und das Ziel, mehr queere Jugendangebote in ländlichen Räumen zu schaffen, was im Koalitionsvertrag8 steht und bisher nicht angegangen wurde, haben wir jetzt übertragen bekommen. Wir haben den Auftrag, Qualitätsstandards und Rahmenkonzepte zu entwickeln, um öffentliche und freie Träger zu unterstützen, queere Freizeitangebote zu schaffen. Erst einmal arbeiten wir in Modellregionen, aber natürlich lässt sich das dann ausweiten und auf andere Standorte übertragen. Wie gesagt, wir sind für mehr Strukturförderung, nicht nur der Landesfachstelle, sondern von allen queeren Angeboten. Auf jeden Fall müsste Jugendpolitik flächendeckender denken. Nächstes Jahr sind Landtagswahlen. Eine jugendpolitische Forderung, die wir stellen, ist, dass es mehr queere Angebote braucht. Beratungs- und Freizeitangebote, durchdacht, zielgruppenspezifisch; Angebote, die in die Jugendarbeit hineingehen; Angebote, die für unterschiedliche queere Jugendliche zugänglich sind.

Torsten Schrodt: Ich denk gerade, was der Bund machen könnte, denn wir kommen ja beide aus Bundesländern, die das Thema wirklich aufgegriffen haben und damit erfolgreich sind. Niedersachsen ist auch ganz gut dabei, ich höre schöne Erfolge aus Schleswig-Holstein, in Berlin gibt es nun auch das erste LSBT*I*-Jugendzentrum, wobei z. B. die Schwulenberatung und Mann-o-Meter (Initiativen aus Berlin, d. Red.) auch immer schon Jugendarbeit gemacht haben. Aber es gibt auch Bundesländer an, wo da deutlich weniger passiert. 
NRW und Hessen zeigen ja: Das Land muss Initiative ergreifen, damit in der Fläche etwas entsteht. Ich bin mir etwas unsicher, was genau der Bund machen könnte. Aber hier wären Impulse in Richtung der Länder und Kommunen wichtig, wenn es um gleichwertige Lebensbedingungen für alle LSBT*I* Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland geht. Bestimmt wäre es gut, wenn wir uns mal – auch mit anderen – zusammentun und tatsächlich an den Bund herantreten. Mit unseren Erfahrungen haben wir da eine Menge zu bieten, was in anderen Bundesländern helfen könnte.

jugendgerecht.de bedankt sich bei Laura Seyfang und Torsten Schrodt für dieses angeregte Fachgespräch und die spannenden Einblicke und Impulse!

Fußnoten:

1 Abkürzung für: Lesbisch, Schwul, Bi, Trans*, Inter*

2 Die Bundesregierung plant, das bestehende Transsexuellengesetz durch ein Selbstbestimmungsgesetz abzulösen, welches trans Personen eine leichtere Änderung von Geschlechtseintrag und Vornamen ermöglicht und die bisherige Gutachtenpraxis ablöst, die viele trans Personen als diskriminierend und pathologisierend erleben. Die Eckpunkte des neuen Gesetzes wurden am 30. Juni 2022 vorgestellt: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/presse/pressemitteilungen/eckpunkte-fuer-das-selbstbestimmungsgesetz-vorgestellt-199406

3 cis: Begriffliches Gegenstück zu trans. Bezeichnet Personen, deren Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt eingetragenen Geschlecht übereinstimmt.

4 Christopher Street Day: jährliche Paraden an vielen Orten der Welt, bei der queere Menschen sich und ihre Sexualität öffentlich feiern. In anderen Ländern als Pride-Paraden bekannt.

5 Internationaler Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transfeindlichkeit. Wird jedes Jahr am 17. Mai begangen. Grund ist die Streichung von Homosexualität aus dem Diagnoseschlüssel der Weltgesundheitsorganisation für psychische Krankheiten im Jahr 1990

6 Der §175 StGB hat bis 1968 (DDR) / 1969 (BRD) schwulen Sex auch unter Erwachsenen verboten. Bis 1989 (DDR) / 1994 (BRD) wurde gleichgeschlechtliche Sexualität zwischen Erwachsenen und Minderjährigen unter Strafe gestellt – strenger, als dies für gemischtgeschlechtliche Jugendliche und Erwachsene geregelt wurde.

7 Koalitionsvertrag zwischen CDU und Bündnis 90/Die Grünen für die Legislaturperiode 2022-2027 in Nordrhein-Westfalen

Koalitionsvertrag zwischen CDU und Grünen für die Legislaturperiode 2018 - 2023 in Hessen

Zu den Personen:

Laura Seyfang, Foto: privat

Laura Seyfang (Pronomen: sie/ihr oder keine Pronomen) ist seit 2021 Referentin bei der Landesfachstelle Hessen "Queere Jugendarbeit" in Trägerschaft des Hessischen Jugendrings. 

Torsten Schrodt, Foto: privat

Torsten Schrodt ist Leiter der Fachberatungsstelle "gerne anders!" in Nordrhein-Westfalen sowie Geschäftsführer des SVLS e. V, Träger von sechs LSBT*I*-Jugendeinrichtungen.