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(09.06.2022) Armutsforscher Prof. Dr. Christoph Butterwegge betrachtet in diesem Artikel das Thema Armut mit besonderem Fokus auf junge Menschen. Neben den Entstehungsursachen und möglichen politischen Handlungsoptionen geht er auch auf die negativen Auswirkungen der Pandemie auf von Armut betroffene Jugendliche ein.

Ein Plakat mit einem Kaffee und Croissant auf einer Wand mit Graffitis und Mülleimern. Ein Plakat mit einem Kaffee und Croissant auf einer Wand mit Graffitis und Mülleimern.
Foto: Jörg Farys / Die Projektoren
Arme Jugendliche – von der Öffentlichkeit, den Massenmedien und der Politik vergessen?
 

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Juni 2022

„Armut“, lange ein gesellschaftliches Tabuthema, wurde nach der Jahrtausendwende und Einführung der im Volksmund „Hartz IV“ genannten Grundsicherung für Arbeitsuchende zeitweilig fast zu einem Topthema deutscher Massenmedien. Dies geschah wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie nunmehr vor allem Kinder traf, die darunter im ungünstigsten Fall ein ganzes Leben lang leiden. Denn im Unterschied zu Jugendlichen, Heranwachsenden und jungen Erwachsenen haben Kinder noch keine geeigneten Bewältigungsstrategien entwickelt und sind nicht in der Lage, ihre Situation zu reflektieren. Außerdem kann man ihnen schwerlich Leistungsmissbrauch vorwerfen. Deshalb wurde ihnen gegenüber auch kein „aktivierender Sozialstaat“ bemüht und weder „Fördern und Fordern“ propagiert noch an die Eigenverantwortung appelliert.

Selbst jene Kommentator(inn)en und Organisationen wie die Bertelsmann Stiftung, denen die materielle Schlechterstellung von „Faulenzern“, Drückebergern und „Leistungsverweigerern“ aufgrund ihrer neoliberal-meritokratischen Gesinnung womöglich als normal erscheint, halten die Kinderarmut für einen gesellschaftspolitischen Skandal. Gesellschaftskritiker(inne)n gilt Kinderarmut, wenn man so will, als sozialmoralische Achillesferse des Finanzmarktkapitalismus, während sie dem Armutsrisiko von Jugendlichen, Heranwachsenden und jungen Erwachsenen weniger Aufmerksamkeit schenken. Dabei sorgen die Aufstiegsbarrieren des bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems dafür, dass aus armen Kindern in aller Regel arme Jugendliche, Heranwachsende und junge Erwachsene werden, die dann häufig wieder arme Kinder bekommen.

Umfang und Erscheinungsformen von Jugendarmut

Obwohl die Armut primär Heranwachsende und junge Erwachsene trifft, wird das Problem der sich ausbreitenden und verfestigenden Jugendarmut in Fachwissenschaft, Politik und (Medien-)Öffentlichkeit eher stiefmütterlich behandelt. Während die Bücher und Broschüren zur Kinderarmut inzwischen ganze Bibliotheken füllen, haben Studien zur Jugendarmut nach wie vor Seltenheitswert.

Entweder nimmt man die armen Jugendlichen nicht wahr, weil das bei uns vorherrschende Armutsbild von absoluter Not und Elend im globalen Süden geprägt ist. Oder der manchmal geradezu voyeuristische Blick vieler Beobachter verweilt auf den Kleinkindern, die als Prototyp der „würdigen“ Armen gelten, weil man sie nicht selbst für ihre soziale Misere verantwortlich erklären kann. Selbst als „Kinderarmut“ kein Tabuthema mehr war, blieb die zunehmende Armut von Jugendlichen, Heranwachsenden und jungen Erwachsenen ein blinder Fleck der Medienberichterstattung. Während das jämmerliche Schicksal der Kinder die Gemüter erregte, zeigte man den in einem noch stärkeren Maße von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen Jugendlichen, Heranwachsenden und jungen Erwachsenen weiter die kalte Schulter.

Heute gibt es neben einer immer noch hohen Jugendarbeitslosigkeit auch vermehrt Jugendarmut, was nicht verwundert. 20,2 Prozent der 13,744 Millionen Kinder und Jugendlichen der Bundesrepublik waren im Jahr 2020 laut dem Mikrozensus, der umfassendsten und zuverlässigsten Sozialstatistik unseres Landes, armutsgefährdet bzw. einkommensarm, wenn man die Armuts(risiko)schwelle der Europäischen Union von 60 Prozent des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens des Haushalts zugrunde legt. War die Armutsrisikoquote der Kinder etwas geringer als ein Jahr zuvor, so erreichte die Armutsrisikoquote der Menschen von 18 bis unter 25 Jahren im Jahr 2020 mit 26 Prozent ein Rekordniveau, das von keiner Altersgruppe überboten wurde.

Unter den Studierenden betrug die Armutsrisikoquote im selben Jahr laut einer Auswertung des Paritätischen Gesamtverbandes sogar 30,3 Prozent, unter den Studierenden im Bafög-Bezug waren es 44,9 Prozent. In der sozial- bzw. wirtschaftswissenschaftlichen Fachdiskussion wird die besonders hohe Armuts(risiko)quote der Heranwachsenden und jungen Erwachsenen relativiert, indem man auf den „privilegierten“ Status der Studierenden verweist und konstatiert, diese müssten nur (wieder) im Haushalt ihrer wohlhabenden Eltern leben, um aus der Armutsstatistik herauszufallen. Abgesehen davon, dass vermutlich mehr Arme (z.B. Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften, Obdachlose, „Straßenkinder“, die bei uns meistenteils Jugendliche sind, Menschen in Notunterkünften und Heimbewohner/innen) von den Statistiker(inne)n gar nicht erfasst werden, haben Volljährige in einem wohlhabenden, wenn nicht reichen Land wie der Bundesrepublik das Recht, einen eigenen Hausstand zu gründen und sich der finanziellen Abhängigkeit von ihren Eltern zu entziehen.

Knapp 1,849 Millionen junge Menschen unter 18 Jahren bzw. 13,5 Prozent aller Kinder und Jugendlichen lebten im Dezember 2020 in Haushalten, die Arbeitslosengeld II und Sozialgeld nach dem SGB II (Hartz IV) bezogen. In den Bundesländern reichte die SGB-II-Quote 2020 von 6,4 Prozent in Bayern bis 31,2 Prozent in Bremen/Bremerhaven. Selbiges galt für 247.652 bzw. 10,9 Prozent der 2,266 Millionen Jungen und Mädchen von 15 bis unter 18 Jahren in Deutschland.

Armut bedeutet nicht bloß, wenig Geld zu haben, denn vor allem Kinder und Jugendliche, die in armen Familien aufwachsen, sind auch persönlicher Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten beraubt, sozial benachteiligt und (etwa im Hinblick auf Bildung und Kultur, Wohlergehen und Gesundheit, Wohnen und Wohnumfeld, Freizeit und Konsum) unterversorgt. Wer aber schon in jungen Jahren deklassiert und ausgegrenzt wird, vermag kulturelle und Bildungsprozesse womöglich nie mehr im Sinne seiner persönlichen Emanzipation zu nutzen. Hier und heute bedeutet Armut für davon betroffene Jugendliche etwa, dass sie niedrige Schulabschlüsse erreichen und im Umgang mit Sprache und Lesestoff weniger geübt sind als Gleichaltrige, die im Wohlstand leben, während sie mehr Scheu vor dem Theater oder dem Museum haben. Da junge Menschen massivem Druck seitens ihrer Peergroup ausgeliefert sind, etwa durch das Tragen teurer Markenkleidung oder den Besitz immer neuer, von einflussreichen Influencer(inne)n empfohlener und möglichst hochwertiger Konsumgüter „mitzuhalten“, kann Armut für sie noch beschämender als für Mitglieder anderer Altersgruppen sein.

Gerade in der Adoleszenz wirkt Armut demütigend, deprimierend und demoralisierend, weil diese Lebensphase für das Selbstbewusstsein der Betroffenen von entscheidender Bedeutung ist. Unterversorgungslagen führen leicht zur sozialen Isolation der von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen. Denn sie unterliegen viel stärker als Erwachsene dem Druck der Werbe- und Konsumgüterindustrie, die ihnen einzureden versucht, dass ein „cooler Typ“ nur ist, wer die teuerste Markenkleidung, das neueste Tablet oder das tollste Smartphone besitzt. Schule und Jugendhilfe können nur in beschränktem Maße dazu beitragen, befriedigende Lebensverhältnisse für Minderjährige und ein Höchstmaß an Chancengleichheit zwischen Jugendlichen unterschiedlicher sozialer wie ethnischer Herkunft zu schaffen.

Entstehungsursachen von (Jugend-)Armut und sozialer Ungleichheit

Macht man den als „Globalisierung“ bezeichneten Prozess einer Umstrukturierung fast aller Gesellschaftsbereiche nach neoliberalen Konzepten, d.h. einer Ökonomisierung und Kommerzialisierung entsprechend der Markterfordernisse, für die Pauperisierung, soziale Polarisierung und Entsolidarisierung verantwortlich, liegen die Wurzeln des vermehrten Auftretens von Kinder-und Jugendarmut auf drei Ebenen:

  1. Im Produktionsprozess löst sich das „Normalarbeitsverhältnis“, unter dem Einfluss des Neoliberalismus mittels der Schlagworte „Liberalisierung“, „Deregulierung“ und „Flexibilisierung“ vorangetrieben, tendenziell auf. Es wird zwar keineswegs ersetzt, aber durch eine steigende Zahl atypischer, prekärer, befristeter, Leih- und (Zwangs-)Teilzeitarbeitsverhältnisse, die den so oder überhaupt nicht (mehr) Beschäftigten wie ihren Familienangehörigen weder ein ausreichendes Einkommen noch den gerade im viel beschworenen „Zeitalter der Globalisierung“ erforderlichen arbeits- und sozialrechtlichen Schutz bieten, in seiner Bedeutung stark relativiert. Außerdem existiert ein sozialer Teufelskreis: Kinderarmut führt zu Jugendarbeitslosigkeit, weil junge Menschen aus sozial benachteiligten Familien schlechte Chancen auf dem Lehrstellenmarkt haben, und Jugendarbeitslosigkeit führt zu Kinderarmut, nämlich dann, wenn davon betroffene Teenager ihrerseits Nachwuchs bekommen.
  2. Im Reproduktionsbereich büßt die „Normalfamilie“, d.h. die z.B. durch das Ehegattensplitting im Einkommensteuerrecht staatlicherseits subventionierte traditionelle Hausfrauenehe mit ein, zwei oder drei Kindern, in vergleichbarer Weise an gesellschaftlicher Bedeutung ein. Neben sie treten immer mehr Lebens- und Liebesformen, die weniger materielle Sicherheit für Kinder gewährleisten (vor allem sog. Ein-Elternteil-Familien). Alleinerziehende, meist Frauen, und ihre Sprösslinge haben zusammen mit Mehrkinderfamilien das höchste Armutsrisiko.
  3. Hinsichtlich der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates bedingt der forcierte Wettbewerb zwischen „Wirtschaftsstandorten“ vermeintlich einen Abbau von Sicherungselementen für „weniger Leistungsfähige“, zu denen allemal Erwachsene gehören, die (mehrere) Kinder haben. Letztere sind deshalb stark von Armut betroffen, weil das neoliberale Projekt eines „Um-“ bzw. Abbaus des Wohlfahrtsstaates auf Kosten vieler Eltern geht, die weniger soziale Sicherheit als vorherige Generationen genießen.

Die neoliberalen Reformen der „Agenda 2010“ von Bundeskanzler Gerhard Schröder, die Deregulierung des Arbeitsmarktes und die Demontage des Sozialstaates durch die sog. Hartz-Gesetze haben für eine Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse und eine Verringerung der sozialen Sicherheit gerade für junge Menschen gesorgt. Wer als junger Mensch einen Ausbildungsplatz hat oder ein Praktikum macht, wird oft so schlecht bezahlt, dass er unter die Armutsgrenze rutscht. Die von CDU, CSU und SPD zum 1. Januar 2020 eingeführte Mindestausbildungsvergütung in Höhe von 585 Euro monatlich im 1. Ausbildungsjahr (2022) hat eher Almosencharakter und ist zu niedrig, um den Betroffenen ein Mindestmaß an Planungssicherheit zu gewähren.

Während knapp die Hälfte aller neuen Arbeitsverhältnisse befristet sind, gilt das für drei Viertel aller jungen Menschen. Auch sind Unter-18-Jährige ohne Berufsausbildung und Kurzzeit-Praktikant(inn)en vom gesetzlichen Mindestlohn ausgenommen, was ihre Stellung auf dem Arbeitsmarkt naturgemäß schwächt. In einigen Berufen, Branchen und Regionen werden skandalös niedrige Ausbildungsvergütungen gezahlt. Mit dem Regelbedarf von Hartz IV in Höhe von 376 Euro (2022) im Monat plus Miet- und Heizkosten, wenn das Jobcenter die Wohnung für angemessen hält, kann man sich als junger Mensch vieles von dem nicht leisten, was für die meisten Gleichaltrigen als normal gilt. Heranwachsende und junge Erwachsene im Hartz-IV-Bezug, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und zur Bedarfsgemeinschaft ihrer Eltern gerechnet werden, dürfen nur dann einen eigenen Hausstand gründen, wenn das Jobcenter zustimmt.

Jugendliche, Heranwachsende und junge Erwachsene unter 25 Jahren gehörten bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 auch in folgender Hinsicht zu den Hauptleidtragenden der Hartz-IV-Gesetzgebung: Sie wurden von den Jobcentern häufiger und (außer bei Meldeversäumnissen) schärfer sanktioniert als ältere Leistungsberechtigte. Bei der zweiten Pflichtverletzung, die darin bestehen kann, dass man einen Job nicht annimmt, ein Bewerbungstraining ablehnt oder eine Weiterbildung abbricht, mussten sie mit einer Totalsanktion rechnen: Das Jobcenter stoppte nicht bloß die Regelleistung, zahlt also kein Geld mehr für den Lebensunterhalt, sondern übernahm auch nicht mehr die Miet- und Heizkosten. Hierdurch verloren junge Menschen teilweise ihre Wohnung und wurde im Extremfall (vorübergehende) Obdachlosigkeit produziert. Diese besondere Strenge ist weder in vergleichbaren Ländern noch auf anderen Rechtsgebieten üblich: Ein jugendlicher oder auch mancher heranwachsende Straftäter wird zum Beispiel milder bestraft, als wäre er bereits erwachsen.

Obwohl der Sozialstaat nach dem Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG) laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 die Pflicht hat, ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ für alle Transferleistungsbezieher/innen zu gewährleisten, tritt er dieses Verfassungsgebot ausgerechnet bei jungen Menschen permanent mit Füßen. Selbst wenn die Grundsicherung für Arbeitsuchende mit ihrem Regelbedarf sowie der Übernahme „angemessener“ Wohnkosten das soziokulturelle Existenzminimum gerade noch sichert, wie das Bundesverfassungsgericht am 23. Juli 2014 in einem weiteren Hartz-IV-Urteil festgestellt hat, bedeutet jede Kürzung wegen einer Sanktionierung zumindest relative Armut für Leistungsberechtigte. Im Falle einer „Totalsanktion“, die normalerweise zur völligen Mittellosigkeit und bei Unter-25-Jährigen manchmal zur Wohnungslosigkeit des Leistungsbedürftigen führte, lag sogar absolute, extreme bzw. existenzielle Armut vor.

Die unsozialen Folgen der Covid-19-Pandemie für Jugendliche

Über zwei Jahre lang hat die Covid-19-Pandemie das Leben der Minderjährigen hierzulande mit wenigen Unterbrechungen beherrscht, und zwar von morgens bis abends ebenso wie nachts, weil viele Kinder und Jugendliche nicht (gut) ein- oder durchschlafen konnten. Zu den Existenzsorgen armutsgefährdeter Familien gesellte sich bei ihnen nun die für sensible Zeitgenoss(inn)en besonders unangenehme Infektionsangst. Außerdem beeinträchtigten Arbeitsplatzverluste, Phasen der Kurzarbeit sowie Quarantäne- und Isolationsmaßnahmen das Familienklima.

Jungen und Mädchen ging die geregelte Alltagsstruktur in der pandemischen Ausnahmesituation noch viel eher verloren als Erwachsenen, die sich aufgrund ihrer größeren Lebenserfahrung und Anpassungsfähigkeit leichter an einen total veränderten Tagesablauf gewöhnen konnten. Teilweise wurde durch die rigiden Schutzvorschriften und vielfältigen Kontaktbeschränkungen während der Pandemie geradezu verunmöglicht, was Kindheit bzw. Juvenilität heute ausmacht.

Die pandemiebedingten Einschränkungen des Privatlebens und der persönlichen Bewegungsfreiheit durch staatliche Infektionsschutzmaßnahmen trafen Jugendliche und Heranwachsende besonders hart, weil diese in aller Regel kontakt-, kommunikations- und reisefreudiger sowie erlebnishungriger sind als Erwachsene. Minderjährige halten sich daher seltener zuhause auf, treffen normalerweise mehr Freunde, Freundinnen und Bekannte, flanieren, feiern und flirten gern mal, nutzen aber auch häufiger und intensiver öffentliche Räume, die hierzulande während des wiederholten Lockdowns weitgehend geschlossen blieben. Dies galt für Jugendzentren und -clubs, Bars, Bistros, Cafés, Diskotheken, Kneipen, Restaurants, Fitnessstudios und Kinos genauso wie für Spielplätze und Sportstätten. Während der Profifußball zumindest ohne Zuschauer/innen bald wieder aufgenommen werden konnte, wurde der Amateur- und Breitensport von den zuständigen Behörden für lange Zeit unterbunden.

Je länger die Einschränkungen des Alltags dauerten, umso mehr nahm die Lebensqualität von Minderjährigen in Deutschland ab. Unter dem wiederholten Lockdown litt die Quantität, aber auch die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen. Trotz vermehrter Nachbarschaftshilfe breiteten sich Kontaktarmut, Einsamkeit und soziale Isolation aus, weil die Netzwerke von Freund(inn)en, Bekannten und Kolleg(inn)en rissen. Minderjährige, die wegen der genannten Restriktionen ihre Freunde, Freundinnen und Klassenkamerad(inn)en nicht mehr treffen konnten, sich aber wegen der im ersten Lockdown aus Hygienegründen gesperrten Sport- und Freizeitanlagen selbst dort nicht mehr aufhalten konnten, klagten besonders dann unter größerer Vereinsamung, wenn sie Einzelkinder waren. Während des zweiten, länger andauernden Lockdowns hatten diese Minderjährigen stark unter Erlebnisarmut, Bewegungsmangel und Langeweile zu leiden.

Dass die Pandemie betroffenen Jugendlichen psychisch mindestens ebenso stark zusetzte wie ihren Familien, zeigten bereits Untersuchungen aus dem Lockdown im Frühjahr 2020. Durch die Monotonie der Pandemie bedingt, erschienen Kindern und Jugendlichen die Jahre 2020 und 2021 als bleierne Zeit, in der sie wenig oder keine Entwicklungsfortschritte machen konnten. Die rund zwei Jahre dauernde Ausnahmesituation bedeutete für junge Menschen eine besondere Herausforderung. Denn für sie waren über 24 Monate (in diesem Fall der Besorgnis, der Unsicherheit und der Beschränkungen ihres Handlungsspielraums) eine sehr viel längere Zeitspanne als für Erwachsene. Gerade in der Adoleszenz wirken aufgezwungene Vereinzelung, Vereinsamung und soziale Isolation, die für junge Menschen mit dem wiederholten Lockdown bisweilen verbunden waren, deprimierend und demoralisierend, weil diese Lebensphase für die Persönlichkeitsentwicklung der Betroffenen und die Frage, wie selbstbewusst sie als Erwachsene auftreten können, von entscheidender Bedeutung ist.

Schulabgänger, Auszubildende und Studierende während der Pandemie

Die nichtakademische, ohnehin von Prekarisierung bedrohte Jugend litt während der Covid-19-Pandemie unter einem signifikanten Rückgang des Lehrstellenangebots in krisengeschüttelten Branchen und Betrieben. Offenbar folgte der „Generation Praktikum“, die zur Jahrtausendwende mit unbezahlten oder minderbezahlten Tätigkeiten abgespeist wurde, statt sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zu erhalten, im Zeichen der Coronakrise eine „Generation kein Praktikum“, der 2020/21 weder genug Ausbildungs- noch genug Praktikumsplätze zur Verfügung standen. Deshalb machte bald die Warnung vor einer „verlorenen Generation“ die Runde.

Seit der Vereinigung von BRD und DDR begannen in keinem Jahr so wenig junge Menschen eine Berufsausbildung wie 2020, denn die Zahl der neu geschlossenen Ausbildungsverträge sank um fast zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. Zwar waren im Januar 2021 nur knapp ein Zehntel mehr 15- bis 24-Jährige als (jugend)arbeitslos registriert als im selben Monat des Vorjahres, zu vermuten ist allerdings, dass sich viele Heranwachsende nicht bei den Jobcentern gemeldet oder aus der Not eine Tugend gemacht und ihre Schullaufbahn verlängert bzw. sich einen Studienplatz gesucht hatten. Denkt man an die künftigen Berufsaussichten der jungen Leute, erhöhte sich die Ungleichheit zwischen der akademischen und der nichtakademischen Jugend dadurch weiter.

Obwohl der Bund ein Programm „Ausbildungsplätze sichern“ auflegte, das es der Agentur für Arbeit ermöglichte, jenen Unternehmen, die weniger als 250 (später: 500) Beschäftigte hatten und trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten verstärkt ausbildeten, eine „Azubi-Prämie“ in Höhe von maximal 3.000 Euro bzw. ab 1. Juni 2021 sogar 6.000 Euro pro Lehrstelle zu zahlen, fiel es Schulabgänger(inne)n während der Pandemie schwerer als früheren Jahrgängen, einen für sie passenden Ausbildungsplatz zu finden. 67.800 junge Menschen gingen im Jahr 2021 leer aus. Wo die Einkommen sowieso niedriger sein werden als bei akademisch Gebildeten und hochqualifizierten Fachkräften, wurde der Start ins Berufsleben dadurch zusätzlich erschwert, verzögert oder verhindert.

Auch die akademische Jugend wurde sozial und ökonomisch stärker gespalten. Da nur zwölf Prozent der 2,8 Millionen Studierenden vor der Pandemie staatliche Unterstützung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (Bafög) erhielten und mehr als zwei Drittel von ihnen einen Nebenjob hatten, gehörten sie größtenteils zu den Krisenopfern. Studierende, die von ihren Eltern nicht unterstützt werden (können) und/oder mit ihrem Bafög-Satz nicht auskamen, verloren wegen des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020, daraus resultierender Geschäftsaufgaben und Betriebsschließungen häufig ihren Nebenjob (z.B. in der Gastronomie), der ihren Lebensunterhalt bis dahin mit gesichert hatte. Da sie weder Kurzarbeiter- noch Arbeitslosengeld I oder II erhalten konnten, waren akuter Geldmangel und manchmal der Abbruch des Studiums die Folge, es sei denn, dass es ihnen gelang, einen Aushilfsjob im (Lebensmittel-)Einzelhandel oder bei einem Lieferdienst zu bekommen.

Wohnten notleidende Studierende nicht ohnehin dort, kehrten manche von ihnen während der Pandemie aus Kostengründen ins Elternhaus zurück. Die beliebte und preiswerte Wohnform der studentischen WG wies eine höhere Ansteckungsgefahr auf, weil man seinen Kommiliton(inn)en und deren Besucher(inne)n in der Gemeinschaftsküche schlecht aus dem den Weg gehen kann. Ihre zumeist relativ kleinen Zimmer, die Studierenden sonst hauptsächlich als Schlaf- und Ruheraum dienen, wurden angesichts der besonders lange geschlossenen Hochschulen zum permanenten Arbeitsplatz umfunktioniert. Auch war der Gang zur Lebensmitteltafel eine mögliche Alternative zur ebenfalls dichtgemachten Mensa, wo viele Studierende vorher preiswert gegessen hatten.

Wurden die Studierenden zuerst auf zinslose Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau verwiesen, so konnten sie später die Überbrückungshilfe aus einem Notfallfonds des Bundes in Höhe von maximal 500 Euro erhalten. Dies war aber nur dann der Fall, wenn sie weniger als diesen Betrag auf ihrem Konto hatten. Viele der Anträge wurden abgelehnt, meistenteils mit der Begründung, dass zwar eine finanzielle Notlage bestehe, diese aber schon vor der Pandemie existiert habe.

Generationenerfahrungen und das Schlagwort der „Generation Corona“

Man unterschätzt meistenteils die Bedeutung des einer Alterskohorte wie den „68ern“ gemeinsamen Erfahrungsschatzes für das Leben, die Einstellung und das Weltbild der betreffenden Personen. So dürfte das einschneidende Schicksal der pandemischen Ausnahmesituation, des wiederholten Lockdowns und der vielfältigen Einschränkungen des „normalen“ Lebens gerade Kinder, Jugendliche und Heranwachsende stark prägen. Insofern kann man von einer „Generation Corona“ sprechen, weil das Virus ihr Aufwachsen erheblich beeinträchtigt und die Pandemie als biografische Zäsur gewirkt, sie mehr als Erwachsene vorübergehend aus der Bahn geworfen und sich ihnen der Kontaktmangel als kollektive Schlüsselerfahrung möglicherweise für Jahrzehnte ins Gedächtnis gebrannt hat.

Ob die für alle Gesellschaftsmitglieder schwierige „Coronazeit“ darüber hinaus ins kollektive Gedächtnis auch der übrigen Alterskohorten und damit der Bevölkerung insgesamt eingeht, dürfte im Wesentlichen davon abhängen, ob die Pandemie im historischen Rückblick als nicht bloß einschneidendes, sondern Wirtschaft, Staat und Gesellschaft auch tiefgreifend veränderndes Ereignis wahrgenommen wird.

Zu befürchten war, dass Ausgangsbeschränkungen, die Verringerung sozialer Kontakte, die Einführung sozialer Abstandsformationen, die Maskenpflicht, die Verbreitung digitaler Formate und die Kontrolle informeller sozialer Netzwerke die Identitätsentwicklung von Kindern und Jugendlichen erheblich behinderten. Schließlich enthielt ihnen die „neue Coronawelt“ eine Vielzahl wichtiger Erfahrungen vor, ohne die eine optimale Entfaltung ihrer Persönlichkeit kaum gelingt, weil sie für ihre Subjektwerdung auf interpersonelle Beziehungen fundamental angewiesen sind. Erst später dürfte sich zeigen, welche Folgeschäden der wiederholte Lockdown für die Entwicklung von Minderjährigen hat.

Gleichwohl ist der These von einer verlorenen Corona-Generation zu widersprechen, weil es „die Jugend“ als homogene Gruppe gar nicht gibt. Zu groß sind die altersbezogenen, ökonomischen und sozialen Unterschiede zwischen den jungen Menschen. Das gilt für ihre Arbeits-, Lebens- und Wohnbedingungen sowie ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse.

Je schwächer die Finanzkraft, der soziale Status und die physische bzw. psychische Fitness eines Menschen war, umso stärker traf ihn in der Regel die Coronakrise. Ähnliches gilt für die residentielle oder sozialräumliche Segregation, unter der Kinder und Jugendliche schon vor der Pandemie stärker litten als Erwachsene. Denn in einem Haus mit großem Garten ließ sich der Lockdown natürlich sehr viel leichter ertragen und die Rückkehr zum Regelbetrieb der Schulen und Hochschulen viel entspannter abwarten, als dies einer Familie in zwei, drei Zimmern am Stadtrand oder in einer Mehrbettsammelunterkunft für Flüchtlinge und Wohnungslose möglich war.

Krisenerscheinungen der Jugendhilfe und die Besetzung der Spitze des Bundesfamilienministeriums

Angebote der Kinder- und Jugendhilfe wie etwa Hilfen zur Erziehung in den Familien wurden vielfach eingestellt oder reduziert. Nur sporadisch oder gar nicht mehr erreichbar waren seit Pandemiebeginn die Angebote der offenen Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit. Einen höheren Beratungsbedarf hatten bereits während des ersten Lockdowns hauptsächlich in finanzschwachen Familien lebende Kinder und Jugendliche. Mit den (armen) Kindern und Jugendlichen wurde auch die Kinder- und Jugendhilfe als wichtige Anlaufstation von der Pandemie geschwächt und vieler Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf Beratung, Behandlung und Begleitung ihrer Adressat(inn)en beraubt.

Den öffentlichen Diskurs, der noch kurz zuvor maßgeblich durch die fantasievollen Aktionen der „Fridays for Future“-Bewegung, ihr Engagement für einen wirksamen Klimaschutz und ihre Forderung nach einem Systemwechsel („System change, not climate change!“) geprägt worden war, vermochten junge Menschen während der Pandemie nicht zuletzt deshalb kaum noch zu beeinflussen, weil ihnen die persönlichen Treffen mit Gleichgesinnten fehlten. Beschlüsse wie die Entscheidung der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsident(inn)en, große Bereiche des gesellschaftlichen Lebens für längere Zeit stillzulegen, wurden ohne vorherige Anhörung von Kindern und Jugendlichen gefasst. Dass diese mit am stärksten von den Schließungen und Kontaktbeschränkungen betroffen sein würden, hätten alle politisch Verantwortlichen vorher wissen müssen.

Alle gesundheits-, wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen, die Parlament und Regierung während der Covid-19-Pandemie ergriffen, wurden über die Köpfe von Kindern und Jugendlichen hinweg beschlossen. Obwohl sich die Bundesrepublik durch ihre Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet hat, Kinder und Jugendliche in allen sie betreffenden Fragen anzuhören, wurden sie in die Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse zunächst nicht einbezogen.

Erst als Jugendverbände und erwachsene Kritiker/innen öffentlich monierten, dass man die jungen Menschen weder konsultiert noch rechtzeitig darüber informiert hatte, was geschehen sollte, eröffnete Franziska Giffey, damals Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, am 2. Februar 2021 einen digitalen Dialog mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Gut einen Monat später lud Giffey zu einem „Jugend-Hearing“ ein, bei dem sie mit Betroffenen und deren Interessenvertretungen, Fachorganisationen der Jugendhilfe und Wissenschaftler(inne)n über das Thema „Corona, Jugend und die Folgen“ diskutierte.

Am 19. Mai 2021 trat Giffey wegen anhaltender Plagiatsvorwürfe gegenüber ihrer Dissertation und wegen der offenbar bevorstehenden Aberkennung ihres Doktortitels durch die FU Berlin zurück. Statt sofort die Nachfolge in diesem enorm wichtigen Ressort zu benennen, ließ es die SPD kommissarisch mit von der damaligen Bundesjustizministerin Christine Lambrecht übernehmen. In der pandemischen Ausnahmesituation das für die Kinder und Jugendlichen zuständige Ressort länger als ein halbes Jahr unbesetzt zu lassen, bildete ein fatales Signal, wie gering der Stellenwert dieses Personenkreises für die Regierungsparteien war. Bisher deutet wenig darauf hin, dass sich daran mit der Regierungsübernahme durch SPD, Bündnisgrüne und FDP im Dezember 2021 viel geändert hat.

Weichenstellungen für eine wirksame Armutsbekämpfung

Da die Kinderarmut zwar öffentlich beklagt, aber nicht energisch bekämpft und die Jugendarmut weitgehend ignoriert wird, muss zunächst ein geistig-moralisches Klima geschaffen werden, das ihre „strukturelle Unsichtbarkeit“ (Daniel März) beendet. Nötig sind mehr Sensibilität für aktuelle Prekarisierungs-, Marginalisierungs- bzw. Pauperisierungsprozesse sowie eine höhere Sozialmoral, die aufgrund der Wohnungsnot und des Mietwuchers in Großstädten und Ballungsgebieten allmählich bis in die Mittelschicht reichende Desintegrations-, Exklusions- und Deprivationstendenzen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt begreift.

Kinder- und Jugendarmut bilden ein viel zu ernstes Problem, um seine Lösung den unmittelbar betroffenen Familien sowie meistenteils gleichfalls hilflosen Erzieher(inne)n, Lehrer(inne)n und Sozialarbeiter(inne)n zu überlassen. Jugendliche sind im Unterschied zu den Vorschulkindern die besten Expert(inn)en ihrer eigenen sozialen Situation. Außerdem sollten die Jugendorganisationen, der Deutsche Bundesjugendring (DBJR) als ihr Dachverband und die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) beteiligt werden, wenn es um die Armut von Minderjährigen geht.

Maßnahmen zur Verringerung und Verhinderung der Entstehung von weiterer Kinder- und Jugendarmut sollten auf unterschiedlichen Politikfeldern und Handlungsebenen ansetzen. Es bedarf einer grundlegenden Kurskorrektur auf allen für das Problem maßgeblichen Politikfeldern. Zu nennen sind hier neben der notwendigen eigenständigen Jugendpolitik als Querschnittsaufgabe die Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitspolitik, die Steuer- und Finanzpolitik, die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die Familienpolitik, die Bildungspolitik sowie die Wohnungsbau- und Stadtentwicklungspolitik. Dabei müssen die Landes- und die Kommunalpolitik neben der Bundesebene einen Teil der Verantwortung übernehmen. Je umfassender die Maßnahmen zur Verringerung bestehender und/oder zur Verhinderung der Entstehung neuer Kinder- und Jugendarmut angelegt und je besser sie aufeinander abgestimmt sind, desto eher ist dem Problem beizukommen.

Es gibt zwar kein Patentrezept, aber fünf Kernelemente eines integrierten Gesamtkonzepts, die sämtlich mit einem kleinen „g“ bzw. mit großen „G“ beginnen: ein gesetzlicher Mindestlohn ohne Ausnahmen und in existenzsichernder Höhe, eine Ganztagsbetreuung für alle Klein- und Schulkinder, eine Gemeinschaftsschule, eine soziale Grundsicherung, die ihren Namen im Unterschied zu Hartz IV verdient, weil sie bedarfsgerecht, armutsfest und repressionsfrei ist, d.h. ohne Sanktionen auskommt, und eine Großoffensive gegen Kinder- und Jugendarmut.

  1. Jugendliche sind arm, wenn ihre Familien bzw. ihre Mütter arm sind und sie kein ausreichend hohes (Erwerbs-)Einkommen erzielen (können). Deshalb fängt die Bekämpfung der Jugendarmut im Erwerbsleben an. Nur durch einen gesetzlichen Mindestlohn in existenzsichernder Höhe und ohne Ausnahmen lässt sich der Niedriglohnsektor, das Haupteinfallstor für Erwerbs-, Familien-, Kinder- und Jugendarmut zurückdrängen. Der ab 1. Oktober 2022 geltende Mindestlohn in Höhe von 12 Euro brutto pro Stunde ist ein Meilenstein auf dem Weg zur erfolgreichen Armutsbekämpfung. Er verhindert allerdings höchstens eine weitere Lohnspreizung und dichtet den Niedriglohnsektor zwar nach unten ab, beseitigt ihn jedoch nicht, was nötig wäre, um Armut und soziale Ausgrenzung nachhaltig zu bekämpfen. Geringverdiener/innen, die in einer Großstadt mit den heute üblichen hohen Mieten wohnen, haben praktisch keine Chance, der Hartz-IV-Abhängigkeit zu entkommen. Sie müssen nach wie vor die Grundsicherung für Arbeitsuchende in Anspruch nehmen und den entwürdigenden Gang zum Jobcenter antreten. Beseitigt werden müssen die Jugendliche treffenden Ausnahmen, damit der Mindestlohn für Beschäftigte jeden Alters gleichermaßen gilt.
  2. Noch immer fehlt zahlreichen Eltern in Deutschland eine Versorgung mit gut ausgestatteten öffentlichen Betreuungseinrichtungen, die in manchen europäischen Staaten fast flächendeckend existieren. Erheblich mehr Ganztagsschulen, die gebührenfrei zur Verfügung gestellte Kindergarten- und Hortplätze ergänzen sollten, hätten einen Doppeleffekt: Einerseits würden von Armut betroffene oder bedrohte Jugendliche umfassender betreut und systematischer gefördert, andererseits könnten ihre Eltern leichter als sonst einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen, was sie finanzielle Probleme eher meistern ließe. Vornehmlich alleinerziehende Mütter – und im seltenen Ausnahmefall: Väter – würden befähigt, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren, ohne hier wie dort Abstriche machen zu müssen. Durch die Ganztags- als Regelschule lassen sich psychosoziale Benachteiligungen insofern kompensieren, als eine bessere Versorgung der Kinder und Jugendlichen mit Nahrung (gemeinsame Einnahme des Mittagessens), eine gezielte Förderung leistungsschwächerer Schüler/innen etwa bei der Erledigung von Hausaufgaben und eine sinnvollere Gestaltung der nachmittäglichen Freizeit möglich werden.
  3. So wichtig mehr und bessere öffentliche Ganztagsbetreuung für Jugendliche ist, so wenig reicht sie aus, um Bildung stärker von der sozialen Herkunft zu entkoppeln. Gleichwohl stößt die öffentliche Reformdebatte selten bis zum eigentlichen Hauptproblem, der hierarchischen Gliederung des Schulwesens in Deutschland, vor. Wer von der Gesamt- bzw. Gemeinschaftsschule für Kinder und Jugendliche aller Bevölkerungsschichten jedoch nicht sprechen will, sollte auch von der Ganztagsschule schweigen. Zweckmäßig wäre eine umfassende Strukturreform, die der sozialen Selektion im mehrgliedrigen deutschen Schulsystem ein Ende bereiten müsste. In „einer Schule für alle“ nach skandinavischem Vorbild wäre kein Platz für die frühzeitige Aussonderung „Bildungsferner“ oder „leistungsschwacher“ Kinder, die arm sind bzw. aus sog. Problemfamilien stammen. Mit einer inklusiven Pädagogik, die keine „Sonderbehandlung“ für bestimmte Gruppen (Menschen mit Behinderung und mit Migrationshintergrund ebenso wie Arme) mehr kennt, könnte man sozialer Desintegration und damit dem Zerfall der Gesellschaft insgesamt entgegenwirken.
  4. Ergänzend zu einer solidarischen Bürgerversicherung, die alle Wohnbürger/innen mit sämtlichen Einkommen und Einkunftsarten (möglichst ohne Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen) zur Finanzierung der nötigen Leistungen im Sozial-, Pflege- und Gesundheitsbereich heranzieht, bedarf es einer sozialen Grundsicherung, die im Gegensatz zu Hartz IV jedem das soziokulturelle Existenzminimum garantiert. Dazu gehört auch ein neues Berechnungsverfahren für die Regelsatzhöhe, das – wie vom Bundesverfassungsgericht in seinem Hartz-IV-Urteil vom 9. Februar 2010 gefordert – sachgerecht, seriös und transparent sein muss.
  5. Überfällig ist eine Großoffensive gegen Kinder- und Jugendarmut, die der Bund zusammen mit den Ländern und Kommunen anstoßen muss, aber Kirchen, Wirtschaft, Gewerkschaften, Wissenschaft, Wohlfahrtsverbände, Jugend- und Betroffenenorganisationen, Bürgerinitiativen, zivilgesellschaftliche Akteure sowie globalisierungskritische Netzwerke mittragen sollten. Denkbar wäre auch ein Runder Tisch, der im gesellschaftlichen Konsens und mit Unterstützung der öffentlichen Meinung geeignete Sofortmaßnahmen vorschlagen könnte.

Die von der „Ampel“-Koalition geplante Kindergrundsicherung, mit der Bestandteile des Familienlasten- bzw. -leistungsausgleichs durch eine steuerfinanzierte und pauschalierte Universalleistung ersetzt werden sollen, ist dann fragwürdig, wenn der steuerliche Kinderfreibetrag nicht einbezogen wird oder alle Kinder und Jugendlichen über einen Kamm geschoren werden, unabhängig davon, wo und in welchen Haushaltskonstellationen sie leben, wie alt und ob sie sozial benachteiligt oder gesundheitlich eingeschränkt sind. Eine stärkere Zielgruppenorientierung im Kampf gegen die Armut muss sicherstellen, dass besonders jene Kinder und Jugendlichen gefördert werden, die aufgrund ihrer strukturellen Benachteiligung und speziellen Handikaps keine optimalen Entwicklungsmöglichkeiten haben.

Auch die Forderung des Grundgesetzes nach Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist bisher unerfüllt. Dies gilt besonders für Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien, die sich in den Großstädten und Regionen wie Berlin, dem Ruhrgebiet oder Bremen/Bremerhaven konzentrieren. Deshalb müssten solche Regionen befähigt werden, ihre soziale, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur so weit zu entwickeln, dass die dort extrem hohe Kinder- und Jugendarmut sinkt. Nur wenn genügend Kindertagesstätten, gut ausgestattete Schulen (mit besser ausgebildetem und mehr Lehrpersonal, Schulsozialarbeitern und Schulpsychologinnen) sowie interessante Freizeitangebote (von Jugendzentren über Bibliotheken bis zu Museen) vorhanden sind, kann verhindert werden, dass ein Großteil der nachwachsenden Generation unterversorgt und perspektivlos bleibt.

Literatur

Butterwegge, Carolin/Butterwegge, Christoph: Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt, Frankfurt am Main/New York 2021
Butterwegge, Christoph: Armut, 5. Aufl. Köln 2021
Butterwegge, Christoph: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, 4. Aufl. Frankfurt am Main/New York 2016
Butterwegge, Christoph: Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona, Weinheim/Basel 2022
Butterwegge, Christoph: Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?, 3. Aufl. Wein-heim/Basel 2018
Butterwegge, Christoph: Krise und Zukunft des Sozialstaates, 6. Aufl. Wiesbaden 2018
Butterwegge, Christoph/Lösch, Bettina/Ptak, Ralf: Kritik des Neoliberalismus, 3. Aufl. Wiesbaden 2017
Butterwegge, Christoph/Rinke, Kuno (Hg.): Grundeinkommen kontrovers. Plädoyers für und gegen ein neues Sozialmodell, Weinheim/Basel 2018

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Zur Person

Prof. Dr. Christoph Butterwegge war nach dem Studium der Sozialwissenschaft, Rechtswissenschaft, Philosophie und Psychologie sowie der Promotion zum Dr. rer. pol. von 1987 bis 1989 als wissenschaftlicher Angestellter am Fachbereich Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften der Universität Bremen beschäftigt. Er vertrat von 1994 bis 1997 an der Fachhochschule Potsdam eine Professur für Sozialpolitik, bevor er 1998 als Leiter der Abteilung für Politikwissenschaft an die Universität zu Köln berufen wurde, wo er bis 2016 lehrte. Seine Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind „Armut und soziale Ausgrenzung“, „Sozialstaatsentwicklung“, „Ursachen und Erscheinungsformen der Ungleichheit“, „Folgen der Covid-19-Pandemie“, „Rechtsextremismus, Rassismus und (Jugend-)Gewalt“, „Globalisierung“, „demografischer Wandel“ sowie „Migration und Integrationspolitik“.

In diesem Beitrag dokumentiert der Autor seinen Vortrag im Rahmen der Fachtagung "Jugendpolitik im Dialog" am 2. Juni 2022 in Frankfurt am Main. Die Arbeitsstelle Eigenständige Jugendpolitik dankt herzlich für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.